Abgebrochene Mitfahrgelegenheit und Orgeleien

Kurz vor Köln schiebt unser Fahrer eine CD in den Player. Zuerst kommt befremdliche Musik, dann, als wir die lange Luxemburger Straße Richtung Innenstadt entlang fahren, eigentlich von Ampel zu Ampel hoppeln, erstirbt die Musik. Eine sonore Männerstimme beginnt Erbauliches zu sprechen und Trost zu spenden, obwohl keiner der Mitfahrenden um Trost und Erbauung gebeten hat. Auch der Fahrer hat sich nicht umgewandt und etwa gefragt: „Brauchen Sie zufällig Trost und Erbauung?“

Als er an der Tankstelle in Aachen vorgefahren war, hatte er ganz fidel gewirkt. Ich hatte aber gestaunt, weil er nach dem Aussteigen nicht viel größer war als vorher, als er hinterm Lenkrad gesessen hatte. Er war ein Sitzriese, oben normal gewachsen, aber seine Beine waren ziemlich kurz und krumm. Trotzdem schien er mit sich im reinen zu sein und war mit Recht guter Dinge gewesen, denn er hatte sich am Vortag verlobt.

Rot, wir stehen wieder. Die sonore Stimme aus der Box hinter meinem linken Ohr sagt, ich solle zufrieden mit mir sein und behutsam mit meinem Körper umgehen. Der sei das wichtigste Instrument, das ich hätte. Das ist durchaus ein interessanter Gedanke. Ich bin dann auch sehr zufrieden mit meinen Beinen, denn ich habe Kniefreiheit, indem ich hinter dem überaus kurzbeinigen Fahrer sitze. Hat er sich die Erbauungs-CD gekauft und hört sie immer wieder, um sich mit seinen Beinen zu versöhnen? Offenbar hilft das, denn er ist ein selbstbewusster, freundlicher junger Mann.

Anfangs hatte ich die CD ziemlich blöd gefunden, weil die Stimme so pastoral wirkte und der Vortrag etwas Pseudoreligiöses hatte. Entscheidend ist aber die Wirkung, und hier habe ich den lebendigen Beweis direkt vor mir. Andererseits muss eine deutliche Grenze gezogen werden, da wo die Lebenshilfe nicht mehr befreiend ist, sondern in die Abhängigkeit führt. Viele Religionen und Sekten knechten den Menschen, schreiben ihm vor, wie er zu denken hat, sedieren und versöhnen ihn auch mit unhaltbaren Lebensverhältnissen, üben unkontrollierte Macht aus.

Wie dieser Text hätte weitergehen können, weiß ich nicht. Wir werden es nicht mehr erfahren, denn mein Obernachbar, der doch eigentlich Waldhornbläser ist, hat sich verflucht noch mal eine elektronische Orgel angeschafft und spielt abrupt unterbrochene Passagen aus Kirchenliedern. Wer kann da noch klar denken.

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