Bericht von der Höflichkeit der Hannoveraner

Grobiane gibt es überall, Choleriker, worin das Wort Kleriker sich verbirgt, und Wüteriche, auch wenn sie gar nicht Erich heißen. Unser Pastor beispielsweise war so ein Choleriker. Er unterwies uns in Religionslehre. Wenn es ihm in der Klasse zu laut wurde, geriet er in Wut, riss den Deckel des Eichenpults hoch und donnerte ihn wieder zu. Das Pult stand auf einem Podest, das man als Schüler nur betrat wie die heiligen Stufen des Altarraums. Irgendwann bekam die Schule neue Möbel, auch ein Pult mit Schubladen, aber ohne Tischklappe. Dem Pastor schien das gar nicht aufgefallen zu sein, denn als er mal wieder in Rage geriet, den Deckel des Pults anheben wollte, wandte er soviel Kraft auf, die vermeintlich widerspenstige Klappe zu bezwingen, da warf er das unschuldige Pult vom Podest herab in den Klassenraum. Damals schon war mir die katholische Religion unheimlich, denn wie konnte ein liebender Gott so wüste irdische Vertreter haben.

Tschuldigung, dieser Text soll von der Höflichkeit handeln. Leider hat mich schon die müßige Sprachspielerei im ersten Satz aus der Kurve getragen. Genauer, es geht um die Höflichkeit der Hannoveraner. Als Rheinländer kann ich das beurteilen, denn wo er ruft: „He! Du häs do jet falle losse!“, nähert sich der Hannoveraner bescheiden und sagt: „Entschuldigen Sie bitte, Sie haben etwas verloren“, meinen Fahrradhandschuh nämlich. Er lag auf den Planken des Strandlebens am Zusammenfluss von Leine und Ihme.

Am selben Pfingstsamstag sitze ich mit meinem lieben Besuch auf einer Bank im Großen Garten der Herrenhäuser Gärten. Die Bank steht in Reihe mit anderen auf einer langen, begrasten Hochterrasse, die von einer kleinen Allee gekrönt ist. Wir haben die niedrige Mauer vor uns zum Büfett gemacht und picknicken, aber nicht unter der hellen Sonne im Schatten der Allee, sondern am Abend in der aufkommenden Dunkelheit. Zu unseren Füßen erstreckt sich der fast quadratisch wirkende Barockgarten. Weiter rechts über den Wipfeln hoher Bäume schießt die Große Fontäne 84 Meter hoch in den Nachthimmel. Leibniz hat einst die Wassertechnik für diese gewaltige Fontäne entworfen. Mit dem Schlag einer hellen Glocke, zehnmal, wenn du mitzählen willst, erstrahlt überall Licht im Park.

Entlang der langen Hecken leuchtet ein helles Grün, die Springbrunnen und Fontänen blitzen golden und silbrig Weiß, die schwarzen Silhouetten der Figuren wandeln sich zu strahlend weißen Göttern auf Sockeln – also, es wurde Licht angemacht, was aber Illumination heißen muss, um die Festlichkeit dieser Abendveranstaltung zu spiegeln. Aus unsichtbaren Lautsprechern schallt Barockmusik. Zuerst wusste ich nicht, wo der Satz hinsollte, aber da der Schall langsamer ist als das Licht, steht er hier am Ende der ausufernden Beschreibung gut. Es geht doch um die Höflichkeit der Hannoveraner.

Mit dem elften Schlag einer kleinen, blechernen Glocke erstarben die Springbrunnen und mit ihnen die Musik. Von überall her sah man dunkle Gestalten zum Ein- Ausgang bummeln. Über die kleine Allee in unserem Rücken kamen dunkle Gestalten heran und strebten der Treppe zu. Aus der Gruppe löste sich ein junger Mann, trat höflich an unsere Bank und sagte: „Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wissen Sie auch, dass der Große Garten gleich geschlossen wird?“ „Nein, das wußte ich nicht“, sagte ich und „Dankeschön für den Hinweis.“

Natürlich gibt es auch unter Hannoveranern unhöfliche Menschen, aber die Beispiele illustrieren den Charakter des durchschnittlichen Hannoveraners. Er ist zurückhaltend, spricht Fremde nur an, wenn er muss. Aber dann ist er von ausgesuchter Höflichkeit.

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