Mauskleine Beziehung, Bier und schöne Schultern

Auf den Straßen brandet der Autoverkehr, auf den Gehwegen ein Kommen und Gehen, unzählige Sonnenhungrige bevölkern den weitläufigen Georgengarten, liegen lustvoll im Gras oder scharen sich um einen qualmenden Grill, doch irgendwo nahebei im Univiertel sitzt eine kleine magere Frau über den alten Briefen von Jean Paul und entziffert die mühsam zu lesende Kurrentschrift.

Man kann sich den Zauber vorstellen, der sie umfängt, wenn sie die Briefe von der Hand eines bedeutenden Schriftstellers des 18. Jahrhunderts studiert und eintaucht in die Vergangenheit, in die Gedankenwelt Jean Pauls, die sich in seinen privaten Nachrichten enthüllt. Manchmal wird sie lange über einem Wort sitzen und versuchen, die Bedeutung zu entschlüsseln. Das ist eine schwierige Angelegenheit, denn die Orthographie weicht stark von der unsrigen ab, und viele der Wortschöpfungen Jean Pauls sind kryptisch. Man muss wissen, worauf er anspielt, muss die Verhältnisse und die geistigen Ideen seiner Zeit kennen, um den gemeinten Sinn zu erschließen. Jean Paul schreibt über die hungernden Schreibermönche:

(…) wenige von uns standen noch den Hunger der Mönche aus, deren Abschreiben durch die Erfindung der Buchdruckerkunst entbehrlich wurde; daher sie mit Recht sagen, den Erfinder derselben, den Doktor Faustus, hätte leider der Teufel unstreitig geholet (…).“

Aus: Jean Paul; Untertänigste Vorstellung unser, der sämtlichen Spieler und redenden Damen in Europa, entgegen der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen; in: Klaus Völker (Hrsg.): Künstliche Menschen, München 1971, (S. 99 f)

Jean Paul setzt hier fälschlich den Mainzer Anwalt und Geldverleiher Johannes Fust mit dem Doktor Faust der Volkssage gleich. Zu seiner Zeit wusste man auch nichts von Johannes Gutenberg, weil sich Johannes Fust in den Besitz von Gutenbergs Druckerei gesetzt und als Erfinder des Buchdrucks ausgegeben hatte.

Egon Friedell hat eine Auswahl von Aphorismen und Sentenzen aus Georg Christian Lichtenbergs Sudelbüchern herausgegeben und geschrieben, viele Stellen, die in vergangenen Editionen dunkel und unverständlich geblieben waren, seien bei der Transkription aus Lichtenbergs Handschrift schlicht verlesen worden. Unter solchen Schwierigkeiten vergisst Frau Dr. Meier die Welt da draußen, vergisst vielleicht auch zu essen und ist stolz und glücklich, wenn sie den Briefen wieder einen Schatz abgerungen hat, beispielsweise eine launige Bemerkung Jean Pauls über Leibniz und seine Monadologie, die Freund Shhhhh in einem nächtlich verfassten Text wiedergibt. Wer schon selbst einen schwierigen Acker bearbeitet hat, weiß die Ergebnisse zu schätzen, die Frau Dr. Meier in einer Vorlesung den interessierten Fachkollegen vorträgt. Und so sparen sie nicht mit Lob, wenngleich Shhhhh und ich froh sind, dass sie endlich fertig ist mit ihrem papierdünnen Vortrag, der vom prachtvollen Hörsaal fast verschluckt wurde.

Trotzdem, es war inspirierend, wie wir später merkten, als wir in einer Lindener Kneipe ein Bier nach dem anderen kippten und uns angeregt unterhielten. Allerdings war ich bald abgelenkt durch eine hübsche junge Frau, die in meinem Blickfeld saß und ihre wohlgerundeten Schultern zeigte, erst eine, und da ihr Gesprächspartner offenbar noch nicht verwirrt genug war, ließ sie ihr Oberteil verrutschen und entblößte wie zufällig auch ihre zweite Schulter. Worüber sie mit ihrem Partner sprach, konnte ich nicht hören. Aber es ging bestimmt nicht um die beinahe mauskleine geistige Beziehung Jean Pauls zu dem gut hundert Jahre früher lebenden Gottfried Wilhelm Leibniz, die Frau Doktor Meier in mühevollster Kleinarbeit aus den Briefen Jean Pauls herausgefiddelt hat. Doch: „Kultur ist Reichtum an Problemen“, schreibt Egon Friedell, womit er gewiss nicht die Probleme meint, die eine schöne Frau mit entblößten Schultern bereiten kann.

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9 Kommentare zu Mauskleine Beziehung, Bier und schöne Schultern

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