Ethnologie des Alltags – Lauter Eisenbieger

Als ich Kind war, da hatten wir einen Nachbarn, der war Eisenbieger. Er hieß Herr Kühn. Ich bewunderte ihn, denn wer Eisen biegt, muss ein wahrhaft starker Mann sein. Herr Kühn hatte auf seinem sehnigen, sonnengebräunten rechten Unterarm eine Tätowierung, einen Indianderhäuptling mit prächtigem Kopfschmuck. Wenn Herr Kühn seine Muskeln spielen ließ, bewegte sich der Häuptling, machte finstere Grimassen oder schien zu sprechen. Später sah ich noch andere Tätowierungen, aber nicht eine hat mich so beeindruckt wie der Indianer auf dem Unterarm von Herrn Kühn. Die anderen Tätowierungen sah ich bei Kirmesleuten, bei den wüsten jungen Männern, die hinten auf den Selbstfahrer aufspringen, um während der Fahrt den Fahrchip zu kassieren. Offenbar wird das Stehen auf dem Selbstfahrer schnell langweilig, und sie machens nicht lang, denn immerzu klebte am Fenster des Kassenhäuschens das Schild: „Junger Mann zum Mitfahren gesucht.“ Auch kannte ich einen mit Tattoo, der zur See gefahren war und hing jetzt bei Karl an der Theke rum, wo er nur den Kopf hob, um irgendwen anzuschnauzen: „Ach, du hast ja keine Ahnung von der Seefahrt!“

Anfang der 80er des letzten Jahrhunderts kam in Mode, sich tätowieren zu lassen, auch wenn man weder Seemann, Kirmesjunge noch Eisenbieger war. Kurz habe ich erwogen, mir rund um den Oberarm ein keltisches Flechtwerkornament tätowieren zu lassen, da wo das kurzärmelige Radsporttrikot endet. Aber dann dachte ich, tätowieren ist doch Sklavenart und habe es gelassen.

Altes Schild sucht jungen Mann – Foto: Trithemius

Kürzlich habe ich mich im hannöverschen Umland mit dem Fahrrad verfahren. Ich hatte nichts zu essen mitgenommen, wollte mich unterwegs irgendwo verpflegen, aber auf den Dörfern gibt es keine Geschäfte mehr. Jedenfalls fürchtete ich bald, dem Mann mit dem Hammer zu begegnen. Da sah ich vor mir zwischen den Feldern eine junge Frau mit Hund, und als ich auf ihrer Höhe war, fragte ich sie, ob es im Dorf eine Bäckerei gebe. „Nein“, sagte sie, „wir haben hier gar nichts.“ Sie war ziemlich hübsch, wie ich im Vorbeirollen sah. Aber über ihrem Ausschnitt prangte eine keltische Flechtwerkornamentik, quer über ihr Dekollete tätowiert. Wer macht so was? Wer bringt es über sich, ein entzückendes Dekollete mit einem Verhau aus dreckigblauer Tinte zu verschandeln? Ich drehte mich noch mal um und rief: „Was esst ihr denn?“ Seufzend hob und senkte sich die keltische Hecke: „Wir fahren in den Supermarkt!“

Ich sitze in
Hannover Linden gerne an der Limmerstraße vor der Biobäckerei Doppelkorn, trinke Milchkaffee und betreibe ethnologische Studien, womit nicht nur Vrouwenkijken gemeint ist. Schon oft wollte ich über das bunte Treiben auf der Limmerstraße schreiben, doch ich krieg da kaum Sätze aufs Papier, weil ständig interessante Leute vorbeikommen. Viele sind tätowiert. Eine schöne junge Mutter, vermutlich Eisenbiegerin, zwei Kinder an der Hand, hat sich gleich ein ganzes buntes Bilderbuch auf den ranken Körper pieksen lassen, damit den Kindern unterwegs nicht langweilig wird. Jetzt unter der warmen Frühlingssonne sind viele Seiten zu betrachten, enthüllen sich quasi bis an die Grenze des Schicklichen, und was noch bedeckt ist, wird nicht jugendfrei sein. Wie werden die ausufernden Tattoos in 30 Jahren aussehen, wenn das Buch ein bisschen aus dem Leim gegangen ist oder Knicke und Falten hat? Also, wenn all die tollen Tattoos sich aufblähen, Risse oder hässliche Runzeln haben, bin ich glücklich tot.

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