Frau Nettesheim stiftet eine Blutorgie an

„Schreiben Sie mal wieder über etwas Kleines, Trithemius“, sagt meine verehrte Filialleiterin Frau Nettesheim, „über etwas Unscheinbares, aber nicht über Ihren Kopf, bitte. Schreiben Sie über das kleinste Ding, das Ihnen direkt vor Augen ist.“

Da gucke ich rum, und das Kleinste auf meinem Arbeitstisch ist das Mäppchen mit den Zigarettenblättchen. Ich kaufe immer die, aber ich kann sie nicht leiden. Seit einigen Jahren sind kurze Texte auf den Innenseiten der Klappen abgedruckt. Es geht um die Bedeutung von Redewendungen. Fragen und Antworten stammen vermutlich aus einem dubiosen Buch für Leute, die sich gern mit halbgarem Wissen den Kopf verkleistern lassen. Auch stört das unpassende Verhältnis von Frage und Antwort. Das Mäppchen liegt da, hat die Klappe aufgerissen und zeigt die Nummer 17 der Serie „Das kommt mir spanisch vor“:


Warum lässt man jemanden im Stich?

Wenn ein Ritter bei einem Turnier stürzte oder von einem Gegner verletzt wurde, musste ihn sein Knappe aus der Gefahrenzone retten. Tat der Knabe das nicht, hatte dies zur Folge, dass sein Herr für einen weiteren Stich liegen blieb und im schlimmsten Falle sogar den Tod fand.“

Ist das wirklich die Antwort auf die Frage: „Warum lässt man jemanden im Stich?“ Also der Sauknappe, warum holt der seinen gefallenen Herrn nicht rein? Diesen verfluchten Knappen sollte mal jemand zur Rede stellen. Wahrscheinlich ist er abgelenkt durch lose Mägde und hebt Röcke an, derweil der Ritter in seinem Blute liegt und jetzt, wie unschön, erneut durchstochen wird. Derweil ist hinter den Zeltbahnen ein Scherzen, Necken und Herzen, ein vergnügtes Tollen rund um in den Boden gerammte Lanzen. Und plötzlich der Spielverderber, verröchelt ganz einfach unterm Lanzenstoß, da könnte der Knappe ja noch geglaubt haben, es grunzt ein Schwein, das für den Spieß vorgesehen ist. Dann aber der Aufschrei der Menge, es ist mehr ein Stöhnen der Blutgeilheit. Da wird der Knappe blass. „O Gott, ich habe meinen Ritter im Stich gelassen, Maritzebilla! Wie konnte ich nur, wie konnte ich nur.“ Aber dann sieht er, welch ein Glück, es ist gar nicht sein Ritter, der da in seinem Blute liegt, es ist nur „jemand“. Und „man“ hat diesen Jemand im Stich gelassen. Aber warum? Das wissen weder der Knappe noch meine Zigarettenblättchen.

So, mein Text wäre dann fertig, Frau Nettesheim. Gerade war ganz schön was los auf meinem Arbeitstisch. Und die Flecken? Zum Glück kein Blut, sondern Kaffee.

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