Telefonzelle im Ohr

Es ist längst Alltag, doch ich erschrecke immer noch vor Leuten, die mit sich selbst zu reden scheinen, meine, sie wären heftig gestörte Sonderlinge, aber in Wahrheit haben sie nur eine immens verkleinerte Telefonzelle im Ohr. Dabei vertrete ich lange schon die Theorie, dass menschliches Denken einst laut begonnen haben muss, als staunendes Stammeln, beschwörendes Brabbeln oder erschrecktes Ah und Oh über die Bilder im Kopf. Auch leises Lesen ist noch recht jung.

Die frühmittelalterlichen Bibliotheken waren von einem ständigen Murmeln erfüllt. Das Einerlei der Buchstaben zwang zum lauten Buchstabieren, worauf Ivan Illich hingewiesen hat, wobei er die wunderbare Metapher prägte: „Murmler im Weinberg des Textes“. Illich hat als erster darauf aufmerksam gemacht, dass der Übergang vom lauten zum leisen Lesen ein geistesgeschichtlicher Umbruch war. Er wurde erst möglich, nachdem im 7. Jahrhundert die Worttrennung eingeführt worden war, damit irische Bauern (idiotae) leichter lesen lernten, wenn sie zu Mönchen ausgebildet wurden, um hinfort auf Europas Festland zu missionieren. Erst die Wortbilderkennung erlaubt das schnelle und leise Lesen. Während “der Murmler im Weinberg des Textes” noch in devoter Haltung das ertönen ließ, was ihm die heiligen Texte vorgaben, kann der leise Leser sich vom Text distanzieren, indem er ihm die Kraft der Vertonung raubt.

Tonloses Denken ist also auch eine Form der Distanzierung, eine Technik der Abstraktion, wie sie notwendig ist, wenn die Überfülle der Eindrücke unserer Welt bewältigt werden muss.

Inzwischen gilt auch das laute Lesen nicht mehr als schicklich, als Symptom von Leseschwäche. Kürzlich traf ich einen Freund wieder, ehedem Professor für Sonderpädagogik. Er berichtete, er habe noch immer mit Schülern zu tun, die er auf Wunsch der Eltern hinsichtlich ihrer Begabung und Intelligenz testet. Ich erinnerte mich an meine Zeit als Lehrer, als engagierte Mütter von leistungsschwachen Schülern schon mal in meine Sprechstunde kamen und mir ein solches Testergebnis unter die Nase hielten. Oder sie hatten sich für ihr Kind ein Legastheniediplom besorgt. Ich war da immer skeptisch, denn es waren ja von den Eltern bezahlte Gutachten. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass Schulversagen oft tatsächlich ein Versagen der Schule ist, nicht der Schüler. Aber selbst wenn die Schule versagt, versagt sie ja meistens nicht, sondern erfüllt ihre gesellschaftliche Aufgabe als Selektionsinstrument, indem sie Kindern aus bildungsfernen Schichten ihren Platz am Rande der Gesellschaft zuweist. Deren Intelligenz wird natürlich nicht getestet, und auch an Legasthenie leiden sie nicht, sondern gelten einfach als doof, als welche, in deren Kopf nichts hineinpasst, abgesehen von enorm verkleinerten Telefonzellen. Da können sie sich ständig gegenseitig anrufen und sich einander versichern, wo sie gerade sind – am gesellschaftlichen Rand natürlich.

Es etabliert sich eine neue Mündlichkeit der Fernkommunikation, eine orale Gesellschaft von Schulopfern. Diese unkundigen Kunden sind nicht im Hier und Jetzt, weil sie da nichts verloren haben. Technikschnickschnack täuscht sie über ihre Lage hinweg. Die Hersteller, der Handel, die Telefonanbieter finden das gut. Solange das dreigliedrige Schulsystem besteht, muss man davon ausgehen, dass auch die herrschende Politik nichts dagegen hat, anders als in Sonntagsreden beteuert wird. Je mehr Unmündige, desto besser.

Dieser Beitrag wurde unter Ethnologie des Alltags, Schrift - Sprache - Medien abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

6 Kommentare zu Telefonzelle im Ohr

Schreibe einen Kommentar zu trithemius Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.