Die Papiere des PentAgrion (16) – Gina Regina

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Um 19:49 Uhr besteige ich auf Gleis 2 des Kölner Hauptbahnhofs den ICE 957 nach Berlin Ostbahnhof, finde sogleich im Wagen 34 den Fensterplatz 21 und sinke erschöpft in die Polster. Schon vor Leverkusen kann ich kaum noch die Augen aufhalten. Das wäre, was Leverkusen betrifft, kein Verlust. Aber ich kann mich nicht einmal darüber freuen, mit geschlossenen Lidern durch Leverkusen zu rauschen. Selbst wenn meine Augen offen wären, man sieht ja so gut wie nichts durchs Zugfenster, wenn es draußen dunkel ist.

Seit Tagen bin ich entsetzlich müde, was wirklich nicht verwunderlich ist. In meinem Kopf geht es zu wie in der Kölner Bahnhofshalle, ein Rennen, Hasten, Drängeln, Schubsen, im Weg rumstehen, ein Stimmengewirr in allen Zungen dieser Erde. Da bleibt mir nur, mich vor dem Gedränge in eine Nische zu flüchten, und stehe ich da, will gerade verschnaufen, ist ausgerechnet gleich nebenan die Wurstbude und sozial depravierte Personen reißen sich um heiß gemachtes Separatorenfleisch mit Glutamat im Schweinsdarm. Es gab Zeiten, da hätte ich wenigstens eine stille Nische neben einer Parfümerie gefunden, und nur gelegentlich wäre eine Dame mit sorgsam gezupften Augenbrauen reingegangen oder eine andere herausgekommen, deren betörender Duft mir Lust gemacht hätte, mich wieder ins pralle Leben zu stürzen und ihr zu folgen. Oder ich hätte in der Nische einer Bahnhofsbuchhandlung gestanden und in Ruhe in einem Buch geblättert, für das sich sonst niemand interessiert, derweil neben mir eine Frau gestanden, völlig versunken in die Zeitschrift IN ARTE VOLUPTAS. Derzeit kann ich froh sein, dass neben mir nicht die Toilettentür pendelt und immer wieder schmatzend ins Schloss fällt.

Im Netz dahin

„Entschuldigen Sie bitte!“ Die Bahnhofshalle färbt sich rot, die turbulente Menge verharrt und löst sich auf. Zurück bleibt eine Frau im roten Kaschmirmantel direkt vor meiner Nase. Sie hält eine Lesebrille zwischen Daumen und Zeigefinger, schaut ostentativ auf ihren Fahrschein und sagt: „Ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz. Wären Sie so freundlich …?“

Ich hole meine Reservierung hervor und sage: „Sie irren sich. Vermutlich sind Sie im falschen Wagen. Aber wenn Ihnen daran gelegen ist, mache ich Ihnen den für mich nutzlosen Fensterplatz frei.“

„Ach, lassen Sie nur, Herr Trithemius. Dann setze ich mich eben zum Gang hin.“

Mir ist das nicht recht, denn jetzt sitzt sie zu meiner Linken. Hoffentlich ist sie Linkshänderin, dann wäre wenigsten Waffengleichheit gegeben. Ich sage: „Da wir uns erneut begegnen und Sie bereits wissen, wie ich heiße, würden Sie mir Ihren Namen verraten, damit ich Sie richtig ansprechen kann?“

„Gina.“

„Gina? Das ist beinah hübsch.“

„Beinah hübsch? Haben Sie je gehört oder gelesen, wie ein Mann einer Frau sagt, ihr Name sei beinah hübsch?“

„Er ist eben nur eine Kurzform, irgendwie raus geschnitten aus dem eigentlichen Namen. Und in Ihrem Fall sind vorne zwei Buchstaben abgehackt, nämlich Re. Das ist bekanntlich der ägyptische Sonnengott. Sein Name durfte bei Nacht niemals ausgesprochen werden. Vielleicht haben Ihre Eltern das Re der Bequemlichkeit wegen gestrichen, denn es wäre doch lästig, Sie tagsüber Regina zu rufen, nachts aber Gina.“

„Glauben Sie meine Eltern hätten sich gesagt, ach, wir nennen das Kindlein Gina, damit wir es in tiefer Nacht aus dem Bett rufen können? Was unterstehen Sie sich, meine guten Eltern zu beleidigen?“

„Wenn kleine Kinder einem nächtlichen Alp begegnen, derweil die Eltern mitten in den süßesten Träumen liegen, dann schrecken sie hoch und rufen. So wäre es nur ausgleichende Gerechtigkeit, wenn die Eltern es umgekehrt auch machen dürften.“

„Eine solche Barbarei nennen Sie Gerechtigkeit? Ich habe den Eindruck, dass Sie die Sache immer schlimmer machen. Ihre Antwort ging daneben. Sie hätten sagen können: ‚Gina, bitte verzeihen Sie mir. Als ich Ihren hübschen Namen hörte, ruckelte der Zug, und ich hätte Sie beinah geschubst. Dabei ist mir dummerweise das ‚beinah’ in den Satz gerutscht. Eigentlich habe ich aber gedacht, es wäre überaus reizvoll gewesen, die entzückende Gina versehentlich anzuschubsen, ganz ohne Zutun, aus höherer Gewalt, weil der ehemalige Bahnchef Mehdorn die Wartungsintervalle der ICE-Wirbelstrombremsen aus Profitgier verlängert hat. In diesem speziellen Fall hat mir das Resultat dieser verantwortungslosen Entscheidung überaus gefallen. Und ‚überaus’ müsste auch in den Satz hinein, nicht ‚beinah’. ‚Der Name Gina ist überaus hübsch.’ Das hätten Sie sagen können.“

„Ich …“

„Stattdessen rufen Sie den altägyptischen Sonnengott zur Hilfe, dessen Name bei Nacht niemals genannt werden darf. Schauen Sie doch mal zum Fenster hinaus, da IST finstre Nacht. Nun haben Sie es an Ehrfurcht fehlen lassen, ein Tabu gebrochen, die Majestät dieses Gottes geschmäht, wodurch Sie gegebenenfalls der göttlichen Bestrafung anheim fallen.

„Wohl kaum!“, sage ich, „das Licht der Lampen hat mich getäuscht, mehr noch ihre Ausstrahlung. Um mich herum ist es taghell. So ist das im ICE, selbst die Nacht ist nicht zu erkennen. Ich konnte also gar nicht wissen, dass draußen schon die Nacht angebrochen ist. Man wird das in der kosmischen Registratur berücksichtigten. Und überhaupt, wieso kennen Sie sich in ägyptischer Mythologie aus? Sagten Sie nicht, Sie studieren Visuelle Kommunikation und arbeiten nebenher als Postbotin?“

„An eine solche Aussage kann ich mich nicht erinnern. Ich bin Ethnologin und nie etwas anderes gewesen.“

Sie nimmt ihre Tasche auf den Schoß, kramt eine zerlesene Ausgabe der Zeitschrift IN ARTE VOLUPTAS hervor, blättert sie auf und vertieft sich. Ich versuche, einen Blick auf den Artikel zu erhaschen, denn ich will zu gern erfahren, was denn so Faszinierendes in dieser unbekannten Zeitschrift steht, dass man sie liest und immer wieder liest, bis sie zerfleddert ist. Dabei ertappt sie mich, verengt ihre runden Augen zu einem Schlitz und funkelt mich an: „Hören Sie, ich liebe es nicht, wenn jemand in meine Zeitschrift schielt. Das ist, als würde man mir ein Liedchen stehlen, das ich gerade auf den Lippen habe. Und übrigens, Ihre Spekulationen über meinen Namen sind eitle und ungeschickte Wissenschaft. ‚Regina’ ist Latein und bedeutet ‚Königin’. Gina ist demnach eine Prinzessin. Das ist Ihr Glück, Sie genießen meinen Schutz, sonst hätten Sie soeben den Zorn des Sonnengottes auf sich gezogen, und er würde Sie rachsüchtig verfolgen von hier bis in die Steinzeit und zurück. Ihre Ausflüchte sind nämlich nur Wortgeklingel. ‚Ich habe mich leider versprochen’, hätte zwar auch nicht geholfen, aber es wäre kürzer gewesen, und ich hätte in Ruhe lesen können.“

Man sagt mir viele negative Eigenschaften und Fehler nach. Selbstverständlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Eines aber kann ich gut, oder besser gesagt, etwas in mir kann es. Wenn ich im Zug einzuschlafen drohe, dann sage ich mir, wo ich zu erwachen habe, und zwar rechtzeitig, damit ich in Ruhe aufstehen, mich strecken, einhüllen und zur Tür gehen kann. Ich habe sogar noch Zeit, mir eine Zigarette zu drehen, damit ich draußen meine Sucht stillen kann. Das klappte auch diesmal, und der ICE reißt mich nicht weiter bis Berlin Ostbahnhof, sondern lässt mich in Hannover hinaus. In der Bahnhofshalle ist durchaus Betrieb, aber es geht weniger hektisch zu als in Köln. Das gefällt mir gut an Hannover. Die Stadt ist erträglich, selbst für einen Reisenden, der noch schlafwarm in die Nacht hinaus muss, um den Weg nach Hause zu finden.

Fortsetzung: Reisebericht
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