Die Papiere des PentAgrion (7) – Spuren im Gelee

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Obelisk des Tranchot

Regen platschte gegen die Fenster des Kerstensche Pavillon. Ich zeigte auf die Scheiben hinter Coster und sagte: „Da, die Rinnsale organisieren sich wieder. Genau wie am Zugfenster.“ Coster sah kaum hin und sagte: „In deinem Modell der Strukturbildung des menschlichen Geistes fehlt eine Erinnerungsoberfläche. Der englische Kreativitätsforscher Edward de Bono hat sich ein besseres Bild ausgedacht. Stell dir eine glatte Gelee-Oberfläche auf einer schiefen Ebene vor!“

„Wie groß?“

„Ist nicht wichtig. Die Geleeoberfläche nehmen wir als Bild für den jungfräulichen Geist eines Menschen. Auf diese Tabula rasa dringen jetzt die ersten Sinneseindrücke ein. Wir simulieren sie mit Wassertropfen. De Bono hat das mit einer Gießkanne gemacht, aber wir schieben die Geleeoberfläche hinaus in den Regen und beobachten von der Tür aus, was geschieht.“

„Gut, dass wir drinnen bleiben können, denn wir stellen uns die Sache ja nur vor“, sagte ich. Mich fröstelte schon, seit der Regen fiel.

„Unsere Geleeoberfläche steht im Regen“, fuhr Coster unbeeindruckt fort, und mir war, als säße er drinnen, ich aber stünde in der offenen Terrassentür. „Wo die Wassertropfen genau auftreffen, das vollzieht sich chaotisch, ist unvorhersehbar. Daher ist nicht festgelegt, wo ein Netzwerk von Rinnsalen und Flüssen entsteht. Die Wassertropfen verhalten sich so ähnlich wie die am Fenster. Aber wenn du genau hinschaust, siehst du, wie die Geleeoberfläche Spuren bekommt. Je mehr Wasser herabtropft, desto rascher fließt es durch das Netzwerk. Einige der Tropfen bilden eine eigene Struktur, viele jedoch neigen plötzlich dazu, in die ausgewaschenen Bach- und Flusstäler zu rinnen. Dieser verstärkte Zufluss führt zu einem tieferen Auswaschen der Täler, was wiederum zu neuen Vernetzungen mit den Strukturen daneben führt. Ach …“, unterbrach Coster, „kannst du mal eben die Geleeoberfläche hereinholen?“

Das tat ich, ließ das Wasser austropfen und brachte sie hinein. Wir schauten sie uns an. „Ein Gedächtnis“, sagte ich.

„Ja, so ungefähr können wir uns das menschliche Gedächtnis vorstellen. Die Netzstruktur von Ritzen, Riefen und Schluchten im Gelee sind die ersten Einprägungen. Ab jetzt werden alle weiteren Informationen von diesem Gedächtnis wie magisch angezogen und auf diese Weise einzigartig moduliert. Bei jedem Menschen ist die Struktur anders, weist aber gewisse Ähnlichkeiten auf, wenn die Lebensbedingungen ähnlich beginnen. Mal regnet es stark, mal tröpfelt es nur. Wir können davon ausgehen, dass alle, die etwa im Oktober geboren wurden, ähnliche Frühprägungen haben.“
„Demnach hätten die Charaktere der Sternzeichen eine logische Erklärung.“
„Du bist Krebs, oder? Man merkt dir an, in welcher Jahreszeit deine Mutter schwanger wurde und wann dein erster Sinn erwacht ist.“
„Und der Unsinn!“, sagte ich, denn nach müde kommt albern. „Entschuldige bitte, Coster, ich bin wohl unterzuckert. Hab seit heute Morgen nichts gegessen, und der Sekt eben, der hat voll reingehauen.“

„Aber, du hast verstanden, was ich dir erklärt habe. Es verdeutlicht, was dein PentAgrion über den Menschen schreibt:

„Früh und chaotisch erhält der Mensch seine Prägungen und ist hinfort isoliert in seinem Weltbild, weil es mit keinem anderen Weltbild völlig zur Deckung gebracht werden kann.“

Aus den Papieren des PentAgrion

„Lieber Coster, bin plötzlich ganz matt. Mir ist soeben der Mann mit dem Hammer begegnet.“ Er sollte später noch einmal um die Ecke kommen.

„Hungerast“, sagte Coster. „Weißt du was, bei dem Wetter kommt sicher kein Besuch mehr. Ich schließe etwas früher ab, und wir gehen hoch zum Drehturm. Oben im Drehrestaurant essen wir. Meinen Termin mit Paul schiebe ich eine halbe Stunde nach hinten. Er ist einer meiner letzten Studenten. Da kann er ruhig mal warten.“

Wir nahmen die alte Blausteintreppe vom Mittelplateau des Lousbergs hinauf zum Obelisken. „Sie hat 140 Stufen“, wusste Coster zu berichten, und ich war froh, dass ich nicht zählen musste. Da kam die Sonne wieder hervor, der Regen zog ab. Auf Stufe 34 klappte Coster seinen Schirm zu.

=> Fortsetzung: Mutiger Schritt in die nur unscharf berechenbare Randzone

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