Die Papiere des PentAgrion (5) – Der Obelisk im schwarzen Netz, Fortsetzung und Ende des Kapitels

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Obelisk des TranchotIhr Gesicht verdunkelte den Himmel.
„Darüber weiß ich nicht das Geringste“, sagte ich und hoffte, sie würde bald weggehen.
„Wovon wissen Sie nicht das Geringste?“, fragte die Frau.
„Weshalb der Überschuss von Kaninchen in Brand gesteckt wurde.“
„Welche Kaninchen?“
„Das weiß ich nicht. Stijn van de Voorde hat zu schnell gesprochen. Hab nur die Hälfte verstanden.“

Sie legte ihre Hand beruhigend auf meine Stirn und beschattete ein wenig meine Augen. „Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte sie nah bei meinem Ohr. „Sie haben den Mann gewiss falsch verstanden. Nicht ein Kaninchen ist abgebrannt worden.“

„Doch! Er hat gesagt, sie gälten in Deutschland als Plagdiere, und deshalb würden sie abgefackelt.“ Da habe ich gleich gedacht, warum das denn? Wie viele Kaninchen umfasst der Überschuss? Ab wann werden Kaninchen zu Plagdieren, so dass man von einem Überschuss reden kann? Reichen 34? Vielleicht sogar schon 21 oder 13? Wenn man Kaninchen in vier Ställen hat, wären vermutlich acht schon eine Überbelegung jedes einzelnen Stalls und würden eine drangvolle Enge verursachen. In einer Dreizimmerwohnung würde der Vermieter bereits fünf Kaninchen einen Überschuss nennen und unverzüglich ihre Verbrennung fordern. Und ist die Wohnung klein, wären drei, sogar zwei Kaninchen eine Last und müssten abgebrannt werden. Tatsächlich könnte ein einziges Kaninchen stören, wenn es ständig im Weg rumhoppelt. Demgemäß ist jedes einzelne Kaninchen ein überschüssiges Plagdier und muss ohne Mitleid angezündet werden. Selbst das, auf dem ich gerade liege.“

„So beruhigen Sie sich doch!“ raunte die Frau. „Nicht ein Kaninchen wird verbrannt. Und außerdem liegen Sie nicht auf einem Kaninchen. Das ist mein roter Mantel, aus Kaschmir.“ Sie richtete sich auf und schaute gegen den blauen Himmel. „Hören Sie doch das Tatütata! Da kommt schon der Krankenwagen den Lousberg hinauf. Sie werden gleich hier sein und Ihnen helfen.“

„Die sollen sich beeilen“, sagte sich. „Ich habe eine Wollallergie und spüre schon, dass mein Kopf zerspringen will.“
„Das liegt nicht an der Kaschmirwolle. Sie sind gegen den Obelisken gestoßen.“

„Nein!“, sagte ich und fuhr hoch. Über mir der gewaltige Obelisk. O Gott, wie ragte er hinauf. Irgendwo da oben, wo seine fluchtenden Kanten sich zu vereinen schienen, durchstieß er die Himmelbläue und verschwand in den Schwärzen des Weltalls. Dieser Obelisk war mir so fern entrückt, der konnte mir nichts anhaben. Ein Mann war um die Ecke des Sockels gekommen und hatte mir seine Faust ins Gesicht gestreckt.

Später, als ich schon im Zug saß mit einem Pflaster über der frischen Naht am Kinn, kehrte meine Erinnerung zurück. Sie hatten mich im Aachener Franziskus-Krankenhaus dabehalten wollen, „zur Beobachtung“, sagten sie. Aber ich hatte mich angezogen und war „auf eigene Verantwortung“ gegangen, weil ich mich nicht beobachten lassen wollte von Leuten in weißen Kitteln.

Ich war bei Coster im Kerstensche Pavillon gewesen. Er hatte mir die Sache mit den gedanklichen Mustern erklärt, hatte mich hingewiesen auf einen Denkfehler, dem ich erlegen war, als ich mir die selbst organisierte Musterbildung im menschlichen Gehirn vorgestellt hatte anhand der Tropfen auf dem Zugfenster. Darauf hatte ich sofort verstanden, was PentAgrion mit seiner Kritik an der menschlichen Sprache meint. Die ungenaue Übersetzung zwischen den unterschiedlichen Sprachen des Erdballs ist nur die offenbare Seite des Problems. Das eigentliche und grundsätzliche Übersetzungsproblem beginnt bei jedem einzelnen Menschen, wenn er die Eindrücke der Welt in sein spezielles Netzwerk von Sprache überträgt, um sie erfassen zu können.

Schwarzes Netz verdichtet sich
Schon eine ganze Weile wusste ich nicht, wo wir uns befanden. Ich guckte gens Zugfenster in die Schwärze, sah mich selbst, wie ich vergeblich versuchte, hinaus zu schauen. Was ist eigentlich los mit den Ingenieuren, die Eisenbahnwaggons planen? Setzen sie sich niemals selbst hinein? Fahren sie niemals bei Nacht von Stadt zu Stadt? Haben sie sich noch nie gefragt, wo mag ich wohl sein?

Und etwa gedacht: Hoffentlich sind wir schon hinter Wuppertal, dieser schier unendlichen Stadt im finstren Talgrund, die den Reisenden nicht weglassen will, und das obwohl doch jeder, der einmal versehentlich ausgestiegen ist in Wuppertal, sehnsüchtig auf dem Bahnsteig steht und hofft, der Zug möge endlich kommen?

Ich meine, haben solche Eisenbahnplanungsingenieure sich noch nie gewünscht, bei einer nächtlichen Zugfahrt hinaussehen zu können, um etwas zu erkennen von der nächtlich Welt, damit sie sich verorten können auf ihrer inneren Landkarte?

Früher konnte der Reisende sein Abteil verdunkeln. Über dem Zugfenster war ein freundlicher Kippschalter, und legte man ihn um, verlöschte das Licht im Abteil. Augenblicklich erschien hinter dem Zugfenster die nächtliche Landschaft, dunkle Horizontlinien eines Waldes, ein einsames Haus, schier endlose Äcker und Plagdiere unterm Mondlicht, Hecken wie schwarze Schablonen vor dem Sternenhimmel, dann eine Gruppe von Häusern, wo Leben war, zumindest Licht in einem Hof, ein dunkler Weiler unter schwarzen Kastanien, ein stilles Dorf, ein weiteres mit Laternen die Straße hoch, ein Bahnhof fliegt vorbei und noch einer. Schrebergärten, in denen die Arbeit ruht, aber Schornsteine rauchen, dann die Vorstadt mit ihren rottigen Bauten und düsteren Gestalten an den Straßenecken …

Genug. Ich muss mich konzentrieren. Warum gestattet die Bahn dem Reisenden keinen Blick in die nächtliche Welt? Sind die Ingenieure verdummt, verblödet über ihren Plänen? Oder steht dahinter eine Strategie. Gibt es einen Grund zu verhindern, dass der Reisende sich orientieren kann bei einer Fahrt über Gleise durch die Nacht? Warum ist auch der Blick ins nächtliche schwarze Schienennetz verwehrt? Sollen wir uns nur nach den Ansagen der Zugführer richten, auf Bildschirme und Laufschriften achten und nicht mehr selbst schauen dürfen, um einen eigenen Begriff von der Welt zu haben?

Mir scheint, das schwarze Netz verdichtet sich. Und es ist überall.

=> Fortsetzung „Loch im schwarzen Netz“

Pataphysisches-Institut
Netz-Dokumentation:

1) Eine eindrucksvolle Betrachtung und Zusammenstellung der Fakten zu den Papieren des PentAgrion bietet der Blogger Einhard.

2) Ein alkoholisch dubioses Thekengespräch über PentAgrion in seiner Münchner Kölschkneipe hat der investigative Blogger Careca aufgezeichnet.

3) Im Hilfeblog hat mir Blaubeerina vom Blog.de-Support beinah geholfen, den gefälschten Dialog mit Frau Nettesheim zu löschen.

4) Unter diesem unlöschbaren Eintrag, der glücklicherweise nur für Freunde zugänglich ist, findet sich seit gestern Nacht ein Trackbacklink zu Einhards neuesten Rechercheergebnissen. Sie sind außerordentlich beunruhigend.

5) In einem Eintrag „Nur für Freunde“ teilt Einhard seinem Freundeskreis mit, was im Nettesheimdialog fälschlich behauptet wird. Er zitiert sogar daraus. Ein bedauerliches Versehen.

6) Careca berichtet, wie er nach seinem Kneipengespräch über PentAgrion in Verwirrung geriet, spekuliert ausführlich über die Spuren, die nach Bayern führen und sagt: „Ich wette, zehn Kölsch mehr und vier, fünf Schabaus zusätzlich, und ich hätte mich schon nicht mehr an das Kneipengespräch erinnert. Aber es fehlten diese vier, fünf.“

7) „Pentagrion“ entfährt es Careca bei einer Besichtigung von Schloss Neuschwanstein. „Gibt es nicht!“, antwortet der Schlossführer. Rätselhaft, beunruhigend für ihn. Aufschlussreich hingegen seine Zahlentheorie, mit der er sich um sicheren Boden bemüht.

8) „Wir müssen über Ingolstadt nachdenken,“ fordert Sittingfool und verweist auf den gestrigen Tatort. „Verrat, Intrige, Korruption.“ Was ist los in Ingolstadt?

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