Die Papiere des PentAgrion (4) -6Destruktiv, Kapitelende

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Vier Gesichter wandten sich mir zu. Im Licht bei einem der hohen Fenster saßen um einen barocken Teetisch Jeremias Coster und drei Frauen. Auf der Tischplatte stand eine geöffnete Sektflasche, man hielt Sektkelche in der Hand und war wohl gerade im Begriff gewesen anzustoßen. Und da stand ich im Vordereingang, erhitzt, errötet, verdutzt, dass Coster nicht allein war, und wie ich einen verlegenen Gruß hervorbrachte, rann ein Schweißtropfen zwischen meinen Brauen herunter zur Nasenspitze und tropfte auf die Marmorfliesen.

„Trithemius! Hast du es doch noch geschafft?“, rief Coster, stand auf und erklärte der Frauenrunde: „Mein Freund aus Hannover. Ist extra angereist, um sich mit mir zu besprechen.“ Ich weiß nicht, ob es die Sektlaune war, aber er trat auf mich zu und schickte sich an, mich zu umarmen. „Ich bin ganz verschwitzt, weil ich mich so beeilen musste“, sagte ich noch, da klopfte er mir schon mit der flachen Hand auf den nassen Hemdrücken. Den lang ersehnten Eintritt in den Kerstenschen Pavillon hatte ich mir anders vorgestellt, erhabener, weniger peinlich in jedem Fall. Coster schob mich zum Tisch hinüber und stellte mich vor. Ich reichte den Frauen reihum die feuchte Hand, bekam nicht einen Namen richtig mit, wäre auch lieber im Marmorboden versunken, statt ihn weiterhin zu nässen.

Coster holte einen Stuhl heran. Ich wehrte ab und fragte: „Kann ich mich hier irgendwo frisch machen?“
„Hinter der Tür rechts neben dem Eingang ist das Treppenhaus. Im Keller gibt es ein Waschbecken“, sagte Coster.

Froh, entkommen zu
sein, betrat ich das Treppenhaus, sah, dass die steinerne Wendeltreppe auch hinaufführte zum Dachgeschoss. Ich fühlte mich wie ein Eindringling, stieg beschämt hinab und kühlte am Waschbecken meinen aufgeheizten Organismus. Der aber drehte weiter, obwohl ich kaltes Wasser über meine Unterarme laufen ließ. Und so stand ich noch eine ganze Weile im Keller, schaute auch in angrenzende offene Räume, aber nur von der Schwelle aus, denn eigentlich hatte ich hier unten nichts verloren. Über den Spiegel rannen die Wassertropfen, verräterische Spuren meiner Unachtsamkeit. Es war mir nicht recht, bei meinem ersten Besuch des Kerstenschen Pavillons alles eingesaut zu haben. Meine Schuld. Herrschaften eilen nie, sondern lassen sich beizeiten fahren. Es reicht nicht, die Türen zu den Palästen für das gemeine Volk zu öffnen. Man muss es auch instand setzen, sich entsprechend zu benehmen. Wer war ich schon. Ein bloggender Teppichhändler in roten Zahlen.

In der Halle würde man sich wundern, wo ich so lange blieb. Vielleicht würde es helfen, an etwas Kaltes zu denken. Gibt es nicht da oben im Himalaja einen tibetanischen Mönchsorden, der sich auf eine wundersame Übung versteht in eiskalter Nacht? Sie führen einen der ihren nackt hinaus, er hockt sich in den Schnee, und sie behängen ihn mit Decken. Andere eilen mit Wassereimern herbei und leeren sie über seinen Kopf. Augenblicklich frieren die Decken ein und erstarren zum Eispanzer. Dann lassen sie ihn allein, und der im Eis wird die Nacht über versuchen, die Decken an seinem Körper aufzutauen und zu trocknen.

Ach, das geht nicht. Schon wird mir wieder warm. Nein, ich muss mich erinnern, was ich in den Papieren des PentAgrion gelesen habe: Am Mount Everest, K2 und an anderen hohen Gipfeln nimmt der Bergtourismus zu. Banker, Finanzjongleure, Investoren, solche, die neuerdings zu Geld gekommen sind, suchen dort oben sich selbst, wollen ihre Grenzbereiche erkunden, außerhalb der alltäglichen Erfahrung. Sie mieten Ausrüstung, Sherpas, Bergführer und steigen in Seilschaften hinauf ins ewige Eis, ohne es je geübt zu haben, außer an Klimmwänden in Fitnesscentern. Im Berg sind die Grenzbereiche rasch durchdrungen, und sie erfahren, dass ihre Allmacht nur unter schwachen Menschen besteht, nicht aber in der eisigen Natur, stürzen in Felsspalten, erstarren in ihren Schlafsäcken, sinken stumm in den Schnee und vereisen.

PentAgrion schreibt: „Die Zunahme dieser Eisleichen an den Gipfeln der höchsten Berge ist eine treffende Metapher für den Todeswunsch der menschlichen Art. Sie sind Feinde der Natur, sie sind einander Feind und sich selbst. Warnung vor dem Menschen. -6Destruktiv“

Plötzlich war mir kalt. Ich stieg rasch hinauf zur Halle, setzte mich wortlos in die Runde, ergriff das Glas, das Freund Coster mir hinhielt, und goss den Sekt in einem Zug hinunter.

=> Fortsetzung: Obelisk im Schwarzen Netz

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