Die Papiere des PentAgrion (4) -6Destruktiv

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Dort die Tasten, hier die Finger, was hindert? Ein Übervoll der Begriffe drängt heran, die Erinnerungen an die Papiere des PentAgrion haben sich breit gemacht in meinem Kopf, haben eine Struktur angelegt, und sie wächst beständig, sucht nach anderen Strukturen, die sich anpassen lassen, es ist mehr ein Einverleiben durch eine Sympathie der Gedanken. Und ich ächze unter dem Versuch, die immer größere werdende Struktur gedanklich zu durchdringen. Wenn ich gesagt habe, ich sei im Delta der Weltformel versunken, dann war das nur eine Wendung, mit der ich versucht habe zu schildern, zu malen, anschaulich zu machen, was vorgeht in mir, seitdem ich in den Papieren des PentAgrion gelesen habe.

Letzten Samstag machte ich mich auf den Weg nach Aachen, um Jeremias Coster zu treffen. Coster schien mir der einzige zu sein, mit dem ich über die Papiere reden konnte. Er ist sein Leben lang in den nur unscharf berechenbaren Grenzbereichen des Lebens unterwegs gewesen, hat sie in alle Himmelsrichtungen durchstreift und mit den Werkzeugen und Methoden der Pataphysik untersucht.

So saß ich am Fenster des Intercity nach Köln, schaute hinaus und versuchte, an nichts zu denken. Da aber hielt der Zug auf freier Strecke, stand eine ganze Weile und wollte nicht weiter. Bald begann ich mich zu fragen, ob ein Zug, der nicht zieht, noch ein Zug ist. Irgendwann beginnt man zu zweifeln, dass da vorne eine Maschine ist, die den Namen Zug verdient. Das ungeduldige Warten gebar eine kleine, zehrende Sorge, dass ich in Köln den Anschlusszug nach Aachen verpassen könnte. Coster hatte mir eingeschärft, unbedingt pünktlich einzutreffen, denn wenn ich mit ihm reden wollte, müsste ich ihn zum Aachener Lousberg begleiten, wo er im Auftrag der Lousberggesellschaft im „Kerstensche Pavillon“ für zwei Stunden Aufsicht zu führen habe. „Wir können uns unterwegs unterhalten“, hatte Coster am Telefon gesagt. Denn er hätte eigentlich gar keine Zeit für mich.

Und nun stand der Zug. Da erwachte in mir wieder dieser abscheuliche Zählzwang, bei dem ich festlege, dass eine stockende Sache weiter gehen muss, wenn ich von Hundert abwärts bis 0 gezählt habe. Ich war bei -6 angelangt, als es ruckelte und weiter ging.

Liebst du es auch, gut geschützt, und von draußen prasselt der Regen ans Fenster, direkt vor deinen Augen? Du kannst sehen, wie die Tropfen die Scheibe hinab rinnen, sich mit anderen vereinigen, erst Bäche, dann Flüsse bilden und zittrig hinunter mäandern, schneller und schneller, je länger der Regen fällt. Und nun beginnt der Zug zu fahren, bringt Unruhe in die Laufwege der Tropfen. Die Bächlein werden fort geblasen, verschwinden in den Bächen, die werden ihrerseits unruhig, brechen plötzlich auf, zerreißen, um sich mit anderen Verirrten zum Strom zu vereinen. Und dieses silbrige Spiel geschieht nicht einmal, sondern hier, da und dort auf der Scheibe, bis plötzlich der geschwinde Zug alles zerstäubt. So ging es zu in meinem Kopf, und deshalb musste ich unbedingt in Ruhe mit Coster über die Papiere sprechen.

Auf der Deutzer Brücke, derweil der Zug hinüberrollte von dä scheel Sick auf die richtige Seite, ich schaute hinaus auf den Rhein, der breit und selbstgewiss dahin floss, sank zurück in den Sitz, genoss wenigstens die Überfahrt, sah wieder auf den Strom, wie er von den Strukturen der stählernen Brückenstreben zerteilt wurde. Den Anschlusszug hatte ich verpasst.

Coster war schon weg, als ich in Aachen eintraf. Ich war hungrig. Die Geschäfte hatten geschlossen. Nach einem Imbiss zu suchen, konnte ich mir nicht leisten. Wenn ich Coster im Kerstenschen Pavillon verpassen würde, wie sollte ich ihn finden? Er könnte dann überall sein, seine vielfältigen Kontakte erstrecken sich über die ganze Stadt. Sie bilden ein dichtes Netz unterschiedlicher Menschen. Und die Kontenpunkte dieses Netzes, das sind Costers Antennen, mit denen er die Welt untersucht. Seit ich ihn kenne, wundere ich mich, wie er die Herrschaft über dieses Netz bewahrt, wieso es ihm nicht entgleitet und ihn sich einverleibt.

LousbergEr selbst gibt eine einfache pataphysische Methode an. „Ich schreibe alles auf, was mir wichtig erscheint, interessant, schräg, neu, – und sogar das Faszinierende. Am Abend sitze ich still, genieße einen Schlaftrunk, und am nächsten Morgen ist meine Festplatte wie gelöscht. Der neue Tag ist meine Offenbarung, alles andere wirkt im Verborgenen nach.“

Aachen ist nicht groß. Man hat es bald durchquert. Aber es war schwül, ich schwitzte unter meinem Mantel, nahm ihn bald in die Hand, in der Pontstraße schon, die vom erhöhten Markt hinabtaucht in eine Senke und danach nur noch ansteigt zum Lousberg hin. Noch nie war ich im Inneren des Kerstenschen Pavillons gewesen, immer hatte ich ihn verschlossen gefunden. Während meiner Zeit in Aachen hatte ich oft an der bergseitigen Terrassentür gestanden und versucht hineinzuschauen, zu erkennen, wie es ist innendrin. Die Aussicht, dass Coster mir Einsicht gewähren würde, beflügelte mich und ließ mich rascher vorankommen auf dem unbequemen Kopfsteinpflaster der Pontstraße. Ich hatte erst weggehen müssen aus Aachen, um in den Kerstenschen Pavillon eintreten zu dürfen. Was Coster dort tat, war mir nicht klar. Was sollte er beaufsichtigen, wenn die Türen doch immer verschlossen sind?

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