Per Handorakel über Bahngleise durch Universen

Der Mann schräg gegenüber hat einen Kopfhörer aufgesetzt und guckt sich auf seinem Notebook einen Film an. Die junge Frau nebenan liest ein Buch, und ich schaue aus dem Fenster des Inter City nach Köln und hänge meinen Gedanken nach. Ob Bahn, Bus oder Zug, immer trachte ich danach, mit der linken Seite zum Fenster zu sitzen. Schon früh habe ich entdeckt, dass mir die Farben mit dem linken Augen intensiver erscheinen. Es ist nur ein winziger Unterschied zum Farbensehen mit dem rechten Auge. Mit links bin ich offener für die Welt. Meine linke Seite ist insgesamt etwas schwächer als meine rechte, nicht so gut geschützt vor äußeren Eindrücken und Anfällen gegen meine Gesundheit wie die rechte. Muss ich ein wichtiges Gespräch führen, trachte ich danach, übereck zu sitzen, so dass ich meinem Gesprächspartner die rechte, starke Seite zuwende, er mir aber seine schwächere linke Seite. Man kann besser übereck sitzen als frontal, wenn man eine Einigung erzielen will, und so sichere ich mir den Vorteil, dass die Einigung zu meinen Gunsten ausfällt.

Die westfälische Landschaft saust vorbei, mal bin ich nur Auge, mal schiebe ich einen Eindruck hinüber nach rechts und denke ein wenig daran entlang. Dann mag es geschehen, dass ich nicht mehr wirklich aufnehme, was sich draußen zeigt, sondern in Gedanken versinke. Sobald mein Fahrschein kontrolliert wurde, genieße ich die Gewissheit, eine ganze Weile nicht gestört zu werden, so dass ich in Ruhe meinen Betrachtungen nachgehen kann. Natürlich schalte ich mein Mobiltelefon nicht ein. Denn ich will nicht aufgeschreckt und aus der Ruhe gerissen werden. Es ist eine Pest, nahezu immerzu auf diversen Kanälen erreichbar zu sein, und ich glaube, ein Gutteil der inneren Unruhe des heutigen Menschen stammt daher.

Gleise durch Universen

Ein unplanmäßiger Halt vor Bad Oeynhausen. Da reckt sich eine kümmerliche Pflanze aus dem Schotter und zittert im Westwind. Vermutlich werde ich sie niemals wieder sehen, weiß nicht einmal ihren biologischen Namen, und doch tritt sie plötzlich in meine Wahrnehmung ein, und ihre Botschaft ist: Ich bin da, ich war es schon gestern und werde es auch morgen sein. Mal werde ich von der Sonne gedörrt, mal vom Wind gezaust, mal vom Regen niedergedrückt, mal droht mich ein vorbeirauschender Zug hinweg zu reißen, doch ich treibe meine Wurzeln tiefer und trotze all den widrigen Bedingungen am Gleisbett. Ich war ein Samenkorn, als du fünf Jahre weniger auf dem Buckel hattest, und ich werde dich vielleicht sogar überleben. Jedenfalls interessiere ich mich nicht für dein Machen und Tun, denn das hier ist mein Universum.

Es macht mich wehmütig, dass sie eigentlich gar keine Botschaft sendet, sondern ich sie nur herauslese aus ihrer Existenz. So viele Leben nebeneinander, so viele Universen. Für einen Augenblick berühren sie sich, um dann auf immer auseinanderzudriften. Schon trägt mich der Zug davon, wird schneller und schneller, und im Nu trennen uns Äonen. Als Kind träumte ich oft von solchen Erfahrungen, von Zahlen in der Schwärze des Weltalls, die mit rasender Geschwindigkeit ins Riesenhafte, Unfassliche wuchsen, derweil ich immer mehr schrumpfte und an Bedeutung verlor. Es war ein Alptraum der Verlassenheit, der mich heute noch schaudern lässt.

Die lesende Frau hat nichts davon mitbekommen. Wir sind uns räumlich nah, doch unsere Universen berühren sich auch nur am äußeren Rand. Für einen Augenblick lag mein Universum zwischen dem der Pflanze und ihrem. Trotzdem floss keine Information, denn ich habe ihr von meiner Begegnung mit der Pflanze nichts gesagt. Es wäre leicht möglich gewesen, wenn es schicklich wäre, eine Unbekannte wegen einer solch kleinen Sache zu stören. Gespräche mit Unbekannten können recht erbaulich sein. Ich habe sogar einmal erlebt, wie ein Mann nach solch einem Gespräch die Weltformel fand.

Sie ist ganz woanders unterwegs, folgt fremden Gedanken. Ein ferner Autor hat sie irgendwann zu Zeilen ausgerichtet, saß vielleicht in dem schmucken Haus an der Bahnlinie, auf dessen Terrasse die Stühle gegen den Tisch geklappt sind. Vielleicht sitzt er aber Tausende Kilometer entfernt am Küchentisch und schält Kartoffeln. Oder er ist schon tot, und wo sein Geist saß, in dem die Gedanken aus dem Buch gedacht wurden, da halten just in diesem Augenblick ein paar ahnungslose Käfer eine fette Mahlzeit. Trotzdem kann sein Geist die Leserin bei der Hand nehmen und durch sein Gedankengebäude führen. Er bietet ihr zu Zeilen gerichtete Wörter an, sie hebt sie auf und verbindet sie mit Bildern aus ihrer Erinnerung und ihrer Phantasie. Somit ist das Buch nur eine grobe Anweisung. Eigentlich führt sie ein eigenes Stück auf ihrer inneren Bühne auf, und nicht der Autor führt Regie, sondern sie selbst. Wie könnte es anders sein. Das Buch ist ein Einkanalmedium, anders als ein Blog, wo der Autor Rede und Antwort stehen kann.

Im Film, den der Mann schaut, verröcheln Gestalten, werden flugs vom grimmigen Helden zerschossen. Ob da Geist vernichtet wird, ist höchst fraglich, denn es ist den Actionfilmen zueigen, nur schablonenhafte Menschen abzubilden, deren Gedanken unerheblich für den Verlauf der Handlung sind. Der Mann am Bildschirm tut nicht viel Eigenes. Er führt sich ein vorgefertigtes Bühnenstück zu. Es erlaubt keine Abweichung. Seine Macher haben keinen Raum gelassen, selbstständig zu denken, denn bevor sich auch nur ein Gedanke entwickeln kann, reißen sie ihn ins nächste Bild. Das wäre anders, hätte er den Kopfhörer nicht auf den Ohren. Ein Stummfilm würde ihm eine gedankliche Leistung abverlangt, die Dramaturgie des Tonfilms erlaubt sie erst gar nicht. Je hektischer der Bildschnitt, je gewaltiger der Ton, je stärker die kalkuliert erweckte Emotion, desto weniger eigene Begriffe kann der Betrachter bilden. Sein eigenes Universum verblasst vor der Gewalt der vorgefertigten Bilder.

Bevor sich mit der Aufklärung das logische Denken verbreitete, ist das Denken sehr viel stärker von Bildern bestimmt worden. Innenwelt und Außenwelt waren nicht klar getrennt, sondern flossen ineinander. Bilder haben noch heute große Macht über den Menschen. Biete ihm ein Bild, so wird er besser zu verstehen glauben, und das, obwohl Bilder nicht seinen Verstand und seine Klugheit aktivieren, sondern Denkmuster installieren und verfestigen. In Bildern zu denken, bringt eine Form von Unfreiheit mit sich. Bilder vermitteln und fördern banale, selbstbezügliche Urteile.

Bald wird es mir zu mühsam, das Äußere des draußen vorbeihuschenden Universums zu bedenken. Die Bilder sind zu flüchtig und lassen sich nicht gedanklich durchdringen, wenn der Zug so rast. Ich nehme ein kleines Buch aus der Tasche, das gut in die Hand passt: „Die Kunst der Weltklugheit“ von Balthazar Gracian (1601 – 1658). Die Originalausgabe: Gracian’s Oraculo manual y arte de prudencia erschien 1633. Arthur Schopenhauer hat das Handorakel im frühen 19. Jahrhundert „treu und sorgfältig übersetzt.“ Dieses Büchlein begleitet mich schon gut 10 Jahre, und vieles daraus habe ich verinnerlicht, denn ich kann Gracians Worte noch heute verknüpfen mit eigenen Erfahrungen. Hier sind sie auf den Punkt gebracht und erweitert um neue Einsichten.

Balthazar Gracian schreibt bündiger und klarer als sein Epigone Adolph Freiherr Knigge (1752 – 1796). Knigges Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ (erschienen 1788) ist aus der Perspektive des vom Leben enttäuschten Kleinadeligen geschrieben, dem es trotz seiner Einsichten nicht gelang, gesellschaftlich aufzusteigen. Gerade deshalb fühlte er sich wohl bemüßigt, gründlich über den Menschen nachzudenken. Dass Knigges umfassende Ratschläge über den Umgang mit sich und den Mitmenschen später reduziert wurden auf Benimmregeln, hat etwas mit der latent devoten Geisteshaltung Knigges zu tun. Daher konnten Knigges kluge Ratschläge zu den starren Bildern von Etikette umgedeutet werden, zu Vorschriften, wie man sich in der besseren Gesellschaft zu benehmen habe – als unterwürfige Anpassung an die Gegebenheiten.

Gracian hingegen gibt nicht nur Ratschläge, wie man mit sich selbst umgehen, wie man sich vervollkommnen und wie man seinen Mitmenschen begegnen sollte, er gibt auch Anleitung zur Entfaltung von Macht über sich und andere. Es fehlt ihm eine soziale Haltung, die den Eigennutz übersteigende Einsicht, dass der Mensch ein Sozialwesen ist und sich auch als ein solches zu verhalten hat. Das Leben ist für ihn ein Kampf, die Oberhand zu gewinnen. Daher habe ich Gracians Lebensregeln für mich erweitert um einige andere. Denn ich habe ja nicht nur eine rechte Seite, sondern auch eine offene linke. Die will auch entwickelt sein. Eine mir wichtige Regel lautet: Offenbare ein wenig deiner Machtmittel, damit du dich nicht zu sehr überhebst. Daher habe ich oben enthüllt, wie ich mir in Gesprächen einen Vorteil verschaffe.

Weder Gracians Machtmittel noch Knigges Umgangsformen helfen, die Gesellschaft klug zu gestalten. Herrschaften mit strategischen Fähigkeiten und vorzüglichen Manieren verdienen an den vielfältigen, nichtswürdigen Zerstreuungsangeboten, versagen echte Bildung, bringen Menschen um Hoffnung, Brot und Arbeit, führen Kriege, befehlen Folter und Mord, plündern bedenkenlos unsere Gesellschaften aus. Die Liste ihrer Schandtaten ist endlos. Und täglich offenbart sich aufs Neue, wie verkommen die Geisteshaltung ist hinter den geleckten Fassaden unserer Eliten.

Ich habe noch von keinem Pleitebanker gehört, dass er Größe oder auch nur gute Manieren gezeigt und sich entschuldigt hätte für seine Gier, sein Abzocken und sein menschliches Versagen. Es ist keine Einsicht unter den Politikern, die ihnen die Türen aufgerissen, die sie haben gewähren lassen und weiterhin fördern. Und all die Speichellecker und Mietmäuler, die in den Talkshows sitzen und ihre üble Propaganda der Selbstsucht verbreiten, die verschmockten Lohnschreiber in den Zeitungsredaktionen, die es nachbeten, – wie wunderbar wäre es, sie würden einfach mal das Maul halten, den Griffel hinlegen und für eine Weile in sich gehen. Das tun sie aber nicht aus Angst vor ihrer eigenen Innenwelt. Diese Universen erstarrter Bilder sind nämlich so trostlos öde, dagegen ist das Pflänzchen im Schotter vor Bad Oeynhausen ein ganzer prächtiger Regenwald.

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62 Kommentare zu Per Handorakel über Bahngleise durch Universen

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