Ohnmacht des Federkiels und Macht der Tasten

Liebe Teppichhauskunden,

den Anstoß zu folgendem Text hat der Eifelphilosoph gegeben, in zweifacher Hinsicht. Zum einen hat er mich hier unter meinem Kommentar ermahnt, ihm nicht die aufklärerische Arbeit allein zu überlassen, derweil ich mich faul an Tempeln in der Sonne herumdrücke, um mich von der leibnizschen Muse küssen zu lassen, zum anderen hat er aus dem Buch „Generation Doof“ die Aussage extrahiert, Bloggen sei ein Kennzeichen der Doofen.

Diese Behauptung von Ahnungslosen wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie nicht im Einklang stünde mit ähnlichen Auslassungen in diversen Publikationen der Printmedien. Der selbsternannte Internetexperte Andrew Keen tönt in einem Buch vom „Zeitalter der schreibenden Affen“, Bernd Graff, leitender Kulturredakteur der Süddeutschen Zeitung und mitverantwortlich für den erbärmlichen Internetauftritt der SZ, sieht das Internet „in der Hand von Idiotae“ und Gregor Dotzauer dünkelt im Tagesspiegel unter dem Titel „Graswurzelverwilderung“ von der bloggenden „Gewaltwillkür (…) pseudonymer Existenzen“, die aus purer Selbstherrlichkeit einen „Kulturkampf“ angezettelt hätten, – um nur einige Beispiel zu nennen. Zu all dem habe ich mich bereits geäußert, und wer genug Muße findet, kann es unter den Links nachlesen.

Es gibt einen weiteren Grund für den zugegeben langen Beitrag, den ich in mehreren Teilen veröffentliche. (EDIT: Der Text ist inzwischen komplett.) Seit Herbst 2005 betreibe ich das Teppichhaus Trithemius mit Enthusiasmus und zuweilen Herzblut, denn ich habe von Anfang an im digitalen Medium Blog eine wundersame Erweiterung der bisherigen Publikationsmöglichkeiten gesehen, die mir und meinen persönlichen Interessen zu passen schien wie ein Handschuh. Das sehe ich noch immer so, doch derzeit bin ich ein bisschen blogmüde, um nicht zu sagen Blog.de-müde. So werde ich meine Aktivitäten hier langsam einschränken und vielleicht Ende des Sommers etwas Neues ausprobieren.

semantisches-Lernen

Einstweilen bin ich dabei, die fast 1400 Beiträge zu sichten, die sich im Teppichhauslager angesammelt haben, sie zu redigieren und zu sortieren, damit einmal etwas daraus werden kann, was sich bequem in die Hand nehmen und in Ruhe lesen lässt. Das ist keine Absage an das Medium Blog, sondern entspringt dem Wunsch, einige der Mängel der digitalen Publikation auszugleichen, die jeder Interneterfahrene kennt, Flüchtigkeit, rasche Vergänglichkeit, Fehlen eines materiellen Exemplars und gelegentliche Augenunlust beim Lesen vom Bildschirm. Über die Vorzüge werde ich weiter unten schreiben.

Bevor ich dazu komme, möchte ich noch einmal etwas zur Diskussion über alte und neue Medien beitragen. Ähnlich wie bei der Diskussion um die Orthographiereform ist die Debatte um den „Kulturkampf“ zwischen alten und neuen Medien von einer unsäglichen Flachheit gekennzeichnet. Das ist kein Kennzeichen der Machtübernahme der Generation Doof, sondern das Ergebnis vorschneller Urteile, die es schon zu allen Zeiten gegeben hat, denn der Mensch ist naturgemäß geistig träge. Allenfalls könnte man sagen, dass die ahistorische Denkweise auf dem Vormarsch ist und primär das Gegenwärtige und Augenblickliche beachtet wird. Diese verengte Sichtweise hat gewiss mit dem Übermaß an Informationen zu tun, die auf diversen Informationskanälen um Aufmerksamkeit buhlen, dem öffentlichen Getute und Geblase, dessen wesentliches Kennzeichen es ist, dass vier Wochen später kaum einer noch davon redet oder weiß.

Wenn ich versuche, die Diskussion auf Füße zu stellen, dann muss ich den Blick über den gegenwärtigen Tellerrand heben und ein bisschen in die Vergangenheit schauen. Ich habe mich bemüht, das in meinen Augen Wesentliche zu skizzieren. Man wird mir sagen können, dass dabei mancher Aspekt nur gestreift wurde oder sogar fehlt, aber ich schreibe ja hier keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern einen Diskussionsbeitrag, der schon jetzt den üblichen Rahmen eines Blogeintrags sprengen wird.

Der geneigte Leser wird sich also etwas Zeit nehmen müssen, doch ich kann immerhin damit trösten, dass ich mir diese Zeit und ein wenig mehr auch genommen habe. Passender Weise begeben wir uns zuerst auf Zeitreise in die jüngere Vergangenheit. Das ist notwendig, damit sich zeigen lässt, dass wir es nicht nur mit einem unerklärten Kulturkampf zu tun haben, sondern mit einem sich machtvoll anbahnenden gesellschaftlichen, kulturellen, vielleicht sogar politischen Umschwung, bei dem die neuen Medien zwar nicht Auslöser aber Katalysator sind und eine neue emanzipatorische Chance bieten.

=> 1 – Herrschaft über Kommunikationsmittel sichert Macht über Köpfe

Wer demnächst zur Europawahl ins Wahllokal geht, um auf dem Wahlzettel sein analphabetisches Kreuzchen zu machen, darf natürlich kein Analphabet sein, denn die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ist schon erforderlich, wenn man an einer Alphabetkultur gesellschaftlich teilhaben will. Das gilt besonders für die Teilhabe an einer demokratisch organisierten Kultur. Die demokratische Teilhabe ist nicht selbstverständlich und steht auch nicht am Anfang der Entwicklung unserer Alphabetkultur.

Noch Ende des 19. Jahrhunderts war Geläufigkeit im Lesen und Schreiben nicht das erklärte Bildungsziel. 1872 schreibt der preußische Konsistorialrat Münchmeyer:

„Wo keine Lust zum Lesen ist, rege man sie nicht an. Es ist nicht zu wünschen, dass der Bauer Zeitungen liest, auch das Verlangen nach guter Lektüre soll, wenigstens unter Landleuten, nicht hervorgerufen werden.“

Im Jahr 1878 schreibt Staatsminister Hofmann anlässlich der ersten Beratung des Gesetzentwurfes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen im Reichstag:

„Wie leicht wird ferner all der gute Samen, den die Schule in das jugendliche Gemüt gestreut hat, zerstört und ausgerottet, wenn der junge Mann von dem Lesen, das er in der Schule gelernt hat, in der Weise Gebrauch macht, dass er sozialdemokratische Blätter studiert, wenn er etwa von seiner Fähigkeit im Schreiben (…) Gebrauch macht, um selbst Artikel in sozialistischen Blättern zu schreiben (…)“

Der Buchwissenschaftler August Demmin beklagt 1890, die Schreibmaschine werde „an den Grenzen Russlands aber, durch die bekannte Unwissenheit der russischen Beamten als ‚revolutionäres Werkzeug‘ in Beschlag genommen.“ Hier hatten die russischen Beamten anscheinend größeren Weitblick als Demmin.

Die Angst der herrschenden Klasse, der einfache Landmann oder lohnabhängige Arbeiter könnte über das Lesen mit subversivem Gedankengut in Berührung kommen oder sogar seine Meinung schriftlich äußern und verbreiten, ist noch größer als der ökonomische Zwang zur schriftlichen Kommunikationsfähigkeit aller Bevölkerungsschichten.

Der mit Beginn des 20. Jahrhundert sich abzeichnende Sinneswandel im staatlichen Bemühen um allgemeine Literalität und Bildung ist kein Akt der Menschenfreundlichkeit, sondern folgt ökonomischen Zwängen. Die sich rasch entwickelnde Wirtschaft benötigte Arbeiter, die Bedienungsanleitungen lesen konnten, Büroangestellte für die Korrespondenzen, Wissenschaftler und Ingenieure in großer Zahl, um die technische Entwicklung voranzutreiben. Und doch wurde die allgemeine Lese- und Schreibfähigkeit auch weiterhin als Bedrohung der Machtverhältnisse empfunden.

Demzufolge wurde in der Gewaltherrschaft des 3. Reiches die Presse geknebelt und dem Propagandaministerium unterstellt, doch die Nationalsozialisten setzten noch stark auf das Akustische und Theatralische, auf Massenkundgebungen und Aufmärsche als mediale Mittel. Dabei sind der Verbreitung von Botschaften natürliche Grenzen gesetzt, weshalb Joseph Goebbels den Volksempfänger entwickeln ließ. Er sollte in erster Linie propagandistischen Zwecken dienen. Doch dass sich ein Massenmedium auch in einer brutalen Diktatur nicht vollends kontrollieren lässt, zeigte das in den letzten Jahren des 2. Weltkriegs trotz Verbots und Strafandrohung aufkommende Abhören der Feindsender, wobei man sich vorsorglich eine schalldämmende Decke über den Kopf zog und darunter am Radio lauschte, im Volksmund: „Englischinhalieren“.

2 – Kontrollierter Neubeginn

Nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches regten die westlichen Alliierten einen demokratisch kontrollierten Öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach Vorbild der englischen BBC an. Zudem schufen sie in ihrem Einflussbereich eine Presselandschaft, mit der sie ein Mindestmaß an Meinungsvielfalt sichern wollten, indem sie in den Städten und Regionen je eine rechtskonservative und eine linksliberale Zeitung ins Leben riefen. Die Lizenzen dazu vergab man an Verleger. Es waren in der erblühenden Bundesrepublik gleichsam Lizenzen zum Gelddrucken.

Indem man also die Presse an Kapitaleigner übergab und sie nicht etwa genossenschaftlich oder selbstverwaltet organisierte wie den Rundfunk, legten die westlichen Siegermächte eine marktwirtschaftliche Orientierung der Zeitungen fest und eine damit einhergehende Staatstreue. Das beinhaltete eben nicht nur ein Bekenntnis zur Parteien-Demokratie, sondern sicherte eine Vormachtstellung der politischen Klasse und der Wirtschaft. Die Herstellungskosten einer Zeitung wurden und werden nämlich durch den Verkaufspreis nicht gedeckt, so dass ein Printerzeugnis nur bestehen kann, wenn man sich die Anzeigenetats der Unternehmen sichert. Wer wollte da durch allzu kritische Berichterstattung wichtige Anzeigenkunden verprellen. Und auch bei der journalistischen Bewertung von Tun und Lassen der politischen Elite ist Vorsicht und Fingerspitzengefühl geboten, denn wenn eine Zeitungsredaktion einmal in Ungnade gefallen ist, bekommt sie kein Interview mehr, und es werden ihr wichtige Informationen vorenthalten. Besonders die Lokalpresse befindet sich hier stets in einem Zwiespalt wegen der Nähe zu örtlich ansässigen Unternehmen und deren Vernetzung zu lokalen Politikern aller bürgerlichen Parteien, deren Willfährigkeit man sich durch Parteispenden und Protektion erkauft.

Die Kontrolle des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks funktioniert anders. Hier sichern sich die Parteien und Verbände den Einfluss durch die Besetzung des Rundfunkrats. Es sollen zwar alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen dort vertreten sein, doch seit Bestehen der Bundesrepublik haben die bürgerlichen Parteien ihren Einfluss auf die Rundfunkräte immer weiter ausgedehnt, mit dem Ergebnis, dass heute alle Führungspositionen der Öffentlich-rechtlichen Anstalten in Redaktion und Verwaltung nach dem Parteienproporz besetzt werden.

Die allzu staatstragende Presse geriet erstmals in der 68er-Bewegung unter Druck, spektakulär durch die Proteste der Außerparlamentarischen Opposition (Apo) gegen die Bildzeitung. Aber auch die seriösere bürgerliche Presse wurde stark kritisiert mit Ausnahme der Frankfurter Rundschau, die von 1945 an sozialistische und gewerkschaftliche Positionen vertreten hatte.

In den 70er Jahren entstand eine erste produktive Gegenbewegung zu den etablierten Medien. In fast allen großen Städten gründeten sich links-alternative oder links-anarchistische Stadt- und Stadtteilzeitschriften, eine Spätfolge der Studentenbewegung von 1968. Die meisten mussten aus wirtschaftlichen Gründen wieder aufgeben oder wandelten sich über die Jahre zu Hochglanz-Stadtillustrierten mit Gastro- und Shopping-Führern, Kleinanzeigen und Veranstaltungs-Tipps. 1978 entstand auch die linke überregionale TAZ. Sie ist bis heute das einzige erfolgreiche selbstverwaltete Projekt von Belang.

Gewinneinbußen und das Aufkommen neuer Satztechniken in den 70er Jahren zwangen auch die etablierte Presse zu Umstrukturierungen und Fusionen, viele Zeitungen verloren ihre Eigenständigkeit oder wurden eingestellt. Ehemals politisch unterschiedlich ausgerichtete Zeitungen erschienen in einem Verlagshaus, wurden in Teilen redaktionell zusammengelegt oder bekamen sogar einen gemeinsamen Chefredakteur, beispielsweise die Aachener Nachrichten und die Aachener Zeitung.

Im Jahr 2003 geriet die deutsche Presselandschaft in ihre bislang schwerste wirtschaftliche Krise, in deren Folge sich die Pressekonzentration verschärfte und viele Journalisten arbeitslos wurden. Allein die Frankfurter Rundschau strich damals 130 Stellen, was ihr jedoch nicht half. Innerhalb von drei Jahren sank die Zahl der Beschäftigten von 1700 auf 750. Im Jahr 2006 erwarb das Verlagshaus DuMont die Mehrheitsbeteiligung, 2007 wurde die FR auf das Tabloid-Format verkleinert, was sich zwangsläufig auf die Inhalte und die Länge der Texte auswirkte. Als überregionale linke Tageszeitung hatte die FR schon länger mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Im Jahr 1996 sagte der damalige Verlagsleiter Utz Grimmer, er sei gar nicht glücklich über das linke Image der Frankfurter Rundschau. Die potentiellen Werbepartner teurer Artikel würden ihm sagen: „Warum sollen wir in Ihrer Zeitung annoncieren? Die wird doch nur von linken Oberstudienräten gelesen, und die kaufen unsere Produkte nicht.“

Zusammenfassend lässt sich sagen: Was als von den westlichen Alliierten verordnete kontrollierte Pressevielfalt begonnen hat, ist aus verschiedenen Gründen zu einem weitgehend einheitlich ausgerichteten Zeitungsmarkt verkommen. Das liegt nicht allein an der Pressekonzentration. Ein wesentlicher Grund ist der zunehmende Einfluss der Verlagskaufleute auf die redaktionelle Arbeit. Aus Sorge um ihren Arbeitsplatz unterwerfen sich Journalisten und achten darauf, dass ihre Zeitung ein anzeigenfreundliches Umfeld bietet. Das Ergebnis aller Faktoren ist eine Beschränkung der Themen, eine einseitige Behandlung gesellschaftlicher Sachverhalte, die Vermischung von Nachricht und Kommentar zum Zwecke der Meinungsmache, die Filterung von Nachrichten, das Aufbauschen des Banalen, das voneinander Abschreiben – und alles zusammen bedingt den Verlust an Glaubwürdigkeit.

So haben fast alle Zeitungen mindestens im Wirtschaftsteil über Jahre hinweg einen strammen neoliberalen Kurs gefahren und wurden erst wach, als die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mehr zu leugnen war. Es liegt also nicht allein am Internet, wenn sich Leser von den Printmedien abwenden, sondern auch an der empfundenen Kumpanei zwischen den Redaktionen und den gesellschaftlichen Macht-Eliten und deren Vorgaben.

Hier soll nicht generell das ehrliche Bemühen vieler Journalisten um saubere und kritische Arbeit bestritten werden. Ihretwegen hat die Presse noch immer eine wichtige politische und gesellschaftliche Kontrollfunktion und ist in diesem Sinne unverzichtbar. Doch die genannten negativen Einflüsse mindern insgesamt ihre Kraft, und in diese Phase der Schwächung des gealterten und maroden Mediums tritt seit einigen Jahren ein neues Medienverhalten.

Viele sind nicht mehr zufrieden damit, sich die tägliche Bevormundungsration aus dem lauen morgendlichen Zeitungsbad zu holen, sondern stellen sich aus dem Internet ihr eigenes Programm zusammen, sind ihre höchsteigenen Redakteure ohne Zensurschere im Kopf. Sie wollen nicht mehr nur Leser und Rezipienten sein, nicht mehr wie Ochsen an einem Karren angebunden durch eingefahrene Spuren trotten. Sie wollen eigene gedankliche Weg gehen, Schreiber, Produzenten und schöpferische Gestalter sein, und hier stellt ihnen das Internet vielfältige Möglichkeiten bereit, die dem Printmedium weit überlegen sind.

=> 3 – Erstickte Bildung

Wir wollen noch einmal in die zweite Hälfte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückkehren und den anderen Aspekt dieses Beitrags betrachten, die Bildung. Wir haben zuvor gesehen, dass Bildung immer unter dem Diktat der jeweiligen Machtverhältnisse steht und die Bildungsinhalte ebenso stark von den Bedürfnissen und Erfordernissen der Wirtschaft abhängen. Konkret: Auch in unserer Demokratie nehmen Interessensvertreter aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen starken Einfluss auf die Lehrpläne, entscheiden also mit, was an den Schulen und Hochschulen gelehrt wird. Hier üben besonders die Interessensvertreter der Wirtschaft starken Druck aus, damit ihre späteren Arbeitnehmer über die erforderlichen Qualifikationen verfügen.

Die Entscheidung über Ausbildungswege, Stoff- und Lehrpläne sind immer Zukunftsentscheidungen, und da niemand die Zukunft kennt, die Entwicklungen aber immer rascher voranschreiten, muss in viele Richtungen geforscht werden, was gleichsam bedeutet, dass die Hochschulen nicht wertfrei arbeiten, also nicht Wissenschaft um ihrer selbst willen betreiben. Das gilt zumindest für jene Fachrichtungen, die sich mit gesellschaftlich und ökonomisch relevanten Themen beschäftigen. Die Freiheit von Bildung und Forschung ist eine Fiktion. Viele Forschungsvorhaben werden von der Wirtschaft initiiert und finanziert, und keine Universität könnte ohne diese Mittel auskommen.

So ist auch die Bildungsforschung natürlich nicht wertfrei. Es gab in der Bildungsforschung der 70er Jahre zwei Hauptströmungen.

– Im Sinne der Wirtschaft entwickelte man das programmierte Lernen, ein Lernen also, das den Menschen wie eine Maschine auszurichten trachtet. Klassische Beispiele sind das Lernen nach dem Multiple-choice-Verfahren, wo nur zwischen richtigen und falschen Antworten entschieden werden muss (man kennt es noch vom Unterrichtsmaterial in der Fahrschule oder von „Wer wird Millionär?“ bei RTL) und die Sprachlabors, in denen Lernende isoliert in Kabinen sitzen und über Kopfhörer und Mikrophon mit dem Ausbilder verbunden sind. Ich sage bewusst nicht Lehrer, denn ein Lehrer ist kein Dompteur und ein Schüler kein wildes Tier im Käfig, das es zu dressieren gilt. Das programmierte Lernen erlaubt kein eigenes Denken, erfordert und trainiert kein Sozialverhalten, sondern fördert das Konkurrenzdenken. Es vermittelt keine wirkliche Bildung.

Die Versuche mit dem programmierten Lernen scheiterten, der Mensch ist eben kein Computer. Es wurde bald deutlich, dass der immer komplexer werdende Arbeitsalltag selbstständiges Denken verlangt sowie die Fähigkeit der Kooperation und zur Teamarbeit.

– Die zweite Strömung war emanzipatorisch. Im Zuge der 68er-Bewegung waren die reformpädagogischen Ansätze vom Beginn des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt worden, Montessori- und Waldorfpädagogik, die antiautoritäre Pädagogik des A.S. Neill in Summerhill, die Ideen des Célestin Freinet, der den Buchdruck in den Unterricht einbezog, die Kunsterzieherbewegung, die das Musische betonte, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Eine moderne Entwicklung ging von Hartmut von Hentig aus (Laborschule Bielefeld).

Rückblickend kann man sagen, dass unter dem Einfluss der emanzipatorischen Pädagogik die Paukschule sich wandelte, alle Strömungen aufnahm und auf diese Weise natürlich nivellierte, was eine Phase der mäßigen pädagogischen Freiheit einleitete, die jedoch rasch wieder versandete. Denn es mangelte ihr an Effizienz im Sinne von Wirtschaft und Politik. Allzu frei sollte der Mensch dann doch nicht denken. Solche Menschen sind schwer anzuleiten, schlecht zu instrumentalisieren und schwierig zu regieren.

Die Reformideen versandeten auch, weil in den 80er Jahren die Mittel für Bildung massiv zusammengestrichen wurden. In der Folge wurden über ein Jahrzehnt kaum noch neue Lehrer eingestellt, was nicht nur bedeutete, dass die Klassen immer größer wurden. Die Schulen waren auch vom pädagogischen Nachwuchs abgeschnitten, der mit neuen Ideen und Erkenntnissen der Hochschulen ausgestattet war. Das von Titanic-Zeichner Hans Traxler für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geschaffene Plakat „Unser Jüngster wird 50!“ ironisiert eine weitere Folge: Der Altersabstand zwischen Lehrern und Schülern wurde immer größer, was sich naturgemäß negativ auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis auswirkte. Man versteht sich einfach schlechter über die Generationen hinweg.

Entgegen aller politischen Sonntagsreden mit den Beteuerungen wie wichtig Bildung sei, hat man die emanzipatorischen Bildungsansätze aus den 70er Jahren einfach ausgehungert. Der Mangel wurde verwaltet, die Schulen wurden beständig mit neuen Verwaltungsvorschriften und Ausführungsbestimmungen ausgebremst, die allesamt dazu dienten, den Notstand zu kaschieren. Dabei handelt es sich nicht um eine Verschwörung, sondern es ist eine Sorte Bedingter Reflex. Er speist sich aus der Angst der jeweils Herrschenden vor selbstständig denkenden Menschen. Da wundert es nicht, dass man die Bildung überwiegend in die Hände zweitrangiger Politiker gab und gibt. Von einem SPD-Landespolitiker hörte ich 1980: „Kein Politiker, der was werden will, geht in die Bildungspolitik.“

💡 4 – Aus dem Quark in die basisdemokratische digitale Hochschule

In den 70ern wandte man sich in einigen Geisteswissenschaften verstärkt der Kommunikationsforschung zu. Die Kommunikationsforschung brachte eine Fülle neuer Erkenntnisse hinsichtlich der Abläufe in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ob sie das Zusammenleben erleichtert haben, sei dahingestellt. Vor allem aber brachten die Befunde der Kommunikationsforschung verfeinerte Techniken der Beeinflussung hervor. Wissenschaftler sind hinsichtlich der Auswirkungen ihrer Forschungen oft ziemlich naiv, aber es musste ihnen klar sein, dass sie an Methoden der Steuerung von Menschen arbeiteten. Wer sich in der heimlichen Beeinflussung seiner Mitmenschen einen Vorteil versprach, konnte sie sich zueigen machen, und das taten vor allem die Werbewirtschaft und die Politik. Denn inzwischen hatte sich die Medienlandschaft entfaltet und gewandelt.

Der Rundfunk verkam zunehmend zum Dudelfunk und wurde hinsichtlich seiner Bedeutung vom Fernsehen verdrängt. Über das Fernsehen lässt sich ein Massenpublikum erreichen und beeinflussen, und man wusste inzwischen viel besser, wie das ging. So drängten Politik und Wirtschaft massiv hinein. In der Politik wandte man sich wieder dem Theatralischen zu, dessen sich die Nationalsozialisten schon bedient hatten. Die Macht des gedruckten Wortes wurde von der Inszenierung im Fernsehen verdrängt, besonders vor Wahlen. Ein Wahlprogramm zu lesen ist viel anstrengender als einem Fernsehduell zwischen Kanzlerkandidaten zuzuschauen. Nun ist das gesprochene Wort aber flüchtig, und von Bildern bildet man keine Begriffe, aber sie appellieren ans Gefühl. Gefühle sind nachhaltiger, und so ist letzten Endes viel wichtiger, welche Figur die Kandidaten in einem Fernsehduell machen, wie sie rüberkommen.

In der heutigen Mediendemokratie kommt kein Politiker von Rang ohne Medienberater aus, und diese Leute regeln alles, bestimmen Kleidung, Beleuchtung, Kamerablickwinkel, trainieren Gestik und Mimik ein und natürlich schreiben sie auch die Reden. Mediendemokratie, das bedeutet auch, dass Politiker in die Talkshows drängen wie auch die Abgesandten und Handlanger der Wirtschaft, Unternehmervertreter, Wirtschaftprofessoren, die Ökonomen der Banken. Und sie alle haben dort jahrelang das neoliberale Credo gepredigt, das uns Finanzkrise und Wirtschaftskrise beschert hat.

Für die Werbewirtschaft gab es bis Anfang der 80er nur wenig Platz im Vorabendprogramm der Öffentlich-rechtlichen Anstalten, und deshalb verlangte sie nach dem Privatfernsehen. Die Zulassung war Ländersache, und von den damaligen Ministerpräsidenten gab sich besonders der CDU-Politiker Ernst Albrecht als vehementer Vorkämpfer. Seine Tochter ist übrigens Ursula von der Leyen. Albrecht versprach größere Meinungsvielfalt, doch bekommen haben wir audiovisuelle Werbung rund um die Uhr und Sendeformate, die sich ein denkender Mensch kaum ansehen kann, ohne erbrechen zu müssen. Die Bildung verkommen zu lassen und gleichzeitig diese gigantische Gehirnwäschemaschinerie zuzulassen, das ist ein nahezu verbrecherischer Anschlag auf das selbstbestimmte Denken. Wir sehen das Ergebnis, eine geistige und moralische Krise, die ein Ausmaß erreicht hat, dass man schier verzweifeln möchte.

Gibt es aus diesem Debakel überhaupt einen Ausweg, wenn die Massenmedien sich gewollt oder ungewollt in den Dienst der Mächtigen und Gierigen stellen, wenn die Politik eine Verdummung ihrer Bevölkerung zulässt oder sogar absichtsvoll betreibt?

Schauen wir einmal kurz auf die Ideen der Deutschdidaktik der 70er Jahre. Ihr ging es nicht mehr nur um Literatur, sondern um die Fähigkeit des Lesers, Literatur für eigene Zwecke in Gebrauch zu nehmen. Darüber hinaus soll er befähigt werden, Sprache als Element der Wirklichkeitserfahrung zu benutzen, also zum unbevormundeten Bilden von Begriffen und mithin freiem Denken.

Joachim Fritzsche hat diesen emanzipatorischen Ansatz besonders deutlich formuliert:

„Da Sprache durchaus ein taktisches Mittel zum Erreichen von Zwecken sein kann, da ferner die Menschen sehr unterschiedlich über dieses Mittel verfügen, erscheint es richtig, dass der Deutschunterricht alles tut, um die Ungleichheit zu beseitigen. (…) Erfahrungen werden sprachlich, wenn schon nicht gemacht, so doch verarbeitet. (…) Einen Sachverhalt begreifen heißt, ihn auf den Begriff zu bringen. Ich möchte dieses Begreifen, weil es etwas mit Bedeutungen zu tun hat, ‚semantisches Lernen’ nennen. (…) Besondere Bedeutung kommt dem semantischen Lernen dort zu, wo die Sachverhalte ihre Bestimmtheit erst durch die Sprache erhalten, also im sozialen und politischen Bereich. (…)

Jede Minute, die ein Mensch dazu nutzt, sich hinzusetzen und schreibend seine Gedanken auszurichten, ist ein aktiver und freier Akt der Wirklichkeitsverarbeitung, ein Training der gedanklichen Begriffsbildung. Das verschafft Klarheit über die eigene Situation, man wird sich seiner selbst bewusst, denn (Zitat Fritzsche):

a) Schreiben objektiviert. Während der Sprecher, mit dem, was er sagt, eine Einheit bildet, veräußert der Schreibende seine Vorstellungen und tritt ihnen gegenüber. Er kann sich selbst beurteilen wie einen Fremden. Das Subjekt wird Text.

b) Schreiben isoliert. Der Schreibende ist auf sich selbst angewiesen; keiner springt ihm bei, wenn ihm ein Wort fehlt; aber es fällt ihm auch keiner ins Wort.

c) Schreiben provoziert. Der Schreibende muss alles, was er zum Ausdruck bringen will, verbalisieren, d.h. ihm eine verstehbare Form geben. In der geschriebenen Sprache muss alles bis zu Ende gesagt werden.

d) Schreiben fixiert. Der Schreibende legt sich beim Schreiben fest, er verpflichtet sich. Seine Äußerungen werden interpretierbar, kritisierbar, diskutierbar.

Man wird leicht sehen können, dass Schreiben im Internet ideale Voraussetzungen für semantisches Lernen bietet, an die Fritzsche noch gar nicht hat denken können. Denn …

a) Schreiben per Tastatur und Bildschirm objektiviert wesentlich stärker als die Handschrift. Der Transport in die Druckschrift macht den Text noch fremder, und so lässt er sich leichter kritisch bewerten.

b) Schreiben ist ein isolierter Prozess, doch dem Schreibenden stehen jederzeit diverse Hilfsmittel zur Verfügung. Er kann sich im Schreibprogramm Synonyme anzeigen lassen, er kann sich bei Wikipedia oder im weiten Internet über einen unklaren Sachverhalt informieren und sich dort anregen lassen.

c) Schreiben im Internet zwingt viel stärker, eine Sache zu Ende zu denken, weil hier nicht ein fiktiver Leser mitgedacht wird, sondern es gibt reale Adressaten, und man ist ihnen zeitlich nah.

d) Die fixierten Gedanken werden veröffentlicht. Und auf die Veröffentlichung folgen unmittelbar Reaktionen. Im Idealfall entwickelt sich ein anregendes Gespräch oder eine Diskussion mit Lesern in den Kommentaren, man bekommt ggf. Hinweise, an die man nicht gedacht hat.

5 – Bloggen ist semantisches Lernen

Auch Blogger haben die von Fritzsche genannten unterschiedlichen Voraussetzungen bei den sprachlichen Mitteln. Und sie verfolgen beim Schreiben unterschiedliche Ziele, je nach Kenntnisstand und Veranlagung. Doch alle befinden sich im Prozess des semantischen Lernens. Es ist nach oben nicht begrenzt, es ist auch nicht zu vermeiden. Es lässt sich also ohne weiters sagen, dass Bloggen bildet.

„Die Buchdruckerei ist das College des armen Mannes“, sagt Abraham Lincoln. Diese Rolle hat das Internet übernommen, da mag die professionell schreibende Zunft höhnen wie sie will. Es ist gut und richtig, wenn jeder sich die Erlaubnis gibt, die wunderbare Universität des einfachen Menschen zu besuchen, um sich der geistigen Bevormundung durch die gelenkten Massenmedien zu entziehen. Es ist richtig und ratsam, nicht nur den zu Zeilen geordneten Gedanken von bezahlten Schreibern zu folgen, denn wir wissen nicht, welche Ziele ihre Geldgeber verfolgen. Es tut gut, sich die Oberhoheit über den eigenen Kopf von den bezahlten Schreibern zurückzuerobern, denn die geistige Bevormundung der Köpfe ist ein Faktor kultureller und politischer Macht. Und wenn auch die bezahlten Schreiber nicht die wirklich Mächtigen sind, so sind sie doch deren Vögte und Statthalter.

Man wende sich also getrost gelegentlich von ihnen ab und schreibe selber auf und lese bei denen, die ebenso handeln. Denn die wirkliche Kraft liegt in der sozialen Vernetzung. Das wird gesellschaftliche Folgen und Einfluss auf das Denken haben, ja, das Internet und die soziale Vernetzung werden das Denken verändern. Es liegt an uns, ob wir uns dort nur unterhalten und verblöden lassen wollen, oder ob wir es als basisdemokratische Universität begreifen, die keiner Zensur unterliegt und jedermann offen steht. Und es liegt an uns, diese offene Universität gegen jede Form der staatlichen Zensur zu verteidigen.

Jules van der Ley

(Foto: Trithemius)

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72 Kommentare zu Ohnmacht des Federkiels und Macht der Tasten

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