Acht Omas uzen einen Igel – aber warum?

Lesereise in fünf Etappen

Weil er die Karteikarten versehentlich vor- und rückseitig beschrieben hatte, habe er ein geplantes Buch nie geschrieben, berichtet der Linguist Harald Weinrich – leider zu spät. Da war mir schon derselbe Fehler unterlaufen. Es ist mühsam, die Übersicht über ausgelegte Karteikarten zu behalten, wenn Wichtiges auf Rückseiten steht. Deshalb will ich auch gar nicht so recht aufschreiben, warum die Omas den Igel ärgern, wo es doch gerade draußen so ungemütlich ist und sogar unentwegt schneit. Freilich hatte ich mir das auferlegt, also nicht das Schneien, sondern über das schändliche und zugleich segensreiche Tun der Omas zu berichten. Das beschloss ich, als ich heute Morgen darüber nachdachte, dass der menschliche Körper nicht besonders lernfähig ist.

Schrift-im-Abendrot
Ausgelagertes Gedächtnis; Foto: Trithemius
Balifasan

Es gibt keinen Balifasan nicht, no Sir. Doch wir brauchen ihn später noch. Wann immer ich mir das Gesicht einschäume, um anschließend den Barthobel drüber zu ziehen, denn frage ich, warum sich mein Körper nicht merken kann, dass ich seit mindestens zehn Jahren keinen Bart mehr tragen will. In der Nacht, wenn ich schlafend ganz woanders unterwegs bin, dann beginnt er zu arbeiten, schiebt heimlich neue Stoppeln hervor, und jeden Morgen zeigt der Blick in den Spiegel, dass er es schon wieder getan hat. Wieder ist eine Rasur zu leisten, mit all ihren diffizilen Verrichtungen. Welch eine Verschwendung von Energie und Ressourcen, die am Ende noch irgendwo anders fehlen, beim Ritzen in Stein beispielsweise und ganz besonders im Oberstübchen. Dort wenigstens prägt sich etwas ein, Wünsche, Vorstellungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Wissen. Wissen vermittelt sich über Sprache, doch damit es bleibt, ist eigentlich zuviel Aufwand erforderlich.

Vermutlich liegt es daran, dass der Mensch für die heutigen Zeiten gar nicht gemacht ist, sondern sich immer noch für das harte Leben in der Eiszeit wappnet, Bart und Pelz wachsen lässt und ständig auf der Lauer ist, irgendwas zu raffen, um Vorräte für schlechte Zeiten anzulegen.

In diesem Leben ist nicht viel Muße gewesen, und ein Anlass für Buchwissen erst recht nicht. Der Mensch der Eiszeit hat nicht geschrieben, sondern Bilder geritzt oder gemalt. Er wollte die sichtbare Welt bannen, um endlich Einfluss auf seine Geschicke nehmen zu können. Mit dieser Form des magischen Denkens ist unser Gehirn vertraut; darum ist es auch immer anfällig für magische Vorstellungen. Buchwissen ist nicht sonderlich bildreich, weshalb es auch „trocken“ geschmäht wird. Es will kaum in den Kopf, und sollte sich einer die Buchstabenfolge aouei merken, muss er sie viele Male memorieren, um sie seinem Gedächtnis beizubiegen.

Acht boshafte Omas

Eisig ging der Wind von Nordwest, drang durch Mantel, Haar und Fell bis auf die Knochen, früh stiegen die Schatten aus dürren Wiesen und Gesträuch, da geschah es, dass acht Omas durch leichtes Schneegestöber aus dem Park nach Hause eilten. Deshalb kam ihnen der Igel nicht zupass, der zur Unzeit über den Weg schlich. Als es die nahenden Schritte spürte, drückte das Tierlein sich eng in die dünne Schneedecke und machte sich starr. Da nahm eine der Omas ein Stöckchen, um den Igel ein wenig zu scheuchen. Die anderen sieben wollten nicht nachstehen, und was in der Folge mit dem armen Igel geschah, …

Gut, es passierte im Dienst der Wissenschaft, wir brauchten eine Merkhilfe. In Irland, auf der Insel Man, in Wales, in Cornwall, auf den Hebriden und dem schottischen Festland, überall finden sich seltsam behauene Steine, senkrecht aufgestellte schmale Stelen, die an ihren Kanten Ritzungen tragen. Der Runenforscher Helmut Arntz datiert sie auf eine Zeit zwischen 300 und 650 unserer Zeitrechnung. Ogma oder Ogmios, der gallische Schutzgott der Barden und Gelehrten soll die Runenschrift erfunden haben, weshalb sie Ogham-, Ogam- oder Ogom-Schrift heißt. Die Römern nannten Ogmios „Herkules von Gallien“. Er ist dargestellt als Greis, dessen Zunge am Ohr des Zuhörers angekettet ist – die Personifikation der Macht der Rede.

Die geheimen Zeichen des Ogmios

Die meisten der Ogham-Stelen sind Grabsteine, doch einige könnten auch Besitzmarken sein, wo beispielsweise nur Namen eingeritzt sind. Die Steine heißen nach dem gelehrten Altbischof Cormac mac Cuilennain (831-905) „gall“. Das Wort bezeichne einen aufrecht stehenden Steinpfeiler, wie man sie nach dem Zeugnis der Heldensage den Verstorbenen zu setzen pflegte. Die Runenreihe ist anders als das Alphabet in vier Gruppen (Geschlechter) zu je fünf Runen gegliedert. In der letzten Gruppe stehen die Vokale, und zwar in der Reihenfolge aouei. ACHT OMAS UZEN EINEN IGEL. Die Zeichen sind senkrecht auf die Steinkante geritzt, wobei die Schreibrichtung variieren kann. Alle Zeichen tragen bedeutungsvolle Namen, die überwiegend dem Pflanzenbereich entnommen sind und mit ihrem eigenen Lautwert anlauten. Helmut Arntz vermutet, dass diese Namen mnemotechnischen Zwecken dienten. Sie sind also Eselbrücken, Bilder, wie die Acht uzenden Omas, mit denen ich mir die Reihenfolge der Ogham-Vokale merke. Die anderen Eselsbrücken:

1) Balifasan
2) Hoch die Tassen, cheers Quasimodo
3) Müde ging zur Ruh
Ogham

Die vom Ohr gelöste Zunge

Für eine literarische Verwendung sind die Ogham-Zeichen kaum geeignet. Sie lassen sich aber bequem durch Handzeichen wiedergeben. Und daher könnte es sein, dass die Ogham-Zeichen ursprünglich erfunden wurden, um in Gegenwart von Nichteingeweihten geheime Mitteilungen auszutauschen.

Die Geste steht am Anfang der Schrift. Sie war unmittelbar an den Menschen und die augenblickliche Situation gebunden. Das war lebendige Kommunikation, im Gegensatz zu den starren Kerben in einer Steinkante oder der Druckerschwärze auf Papier. Was du hier liest, besteht ja leider nicht einmal mehr aus körperhafter Farbe. Ein Text im Internet ist jedem Leser weiter entfernt als man glauben mag. Deshalb verlangt es uns besonders im Internet nach Bildern. Denn die entkörperte Sprache hat es schwer.

Schönen Abend und:

Geheime-Botschaft

Über Buchstabenmagie

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