Sonntagstour – Nicht gegen Schweinepest impfen

Dreiländerweg-abwärts… Andererseits lockt die Sonne. Einige Stunden widerstehe ich der Tiernatur, dann treibt sie auch mich hinaus. Noch während ich das Fahrrad durch den Heckengang schiebe, weiß ich nicht, wohin die Reise geht. Mühelos wird die Sache nicht zu machen sein, denn es ist unmöglich aus Aachen heraus zu fahren, ohne dass Steigungen und Anstiege im Weg liegen. Ich fahre die Ecke herum und die Bleiberger Straße hinauf, immer entlang der Güterbahnlinie. Am Beginn der Bleiberger Straße hast du die Bahnlinie hoch über dir. Da fauchen und rasseln die Güterzüge über einen Damm, der durch eine hohe Ziegelmauer begrenzt ist. Hier steigt die Straße stark an, ist bald mit der Bahnlinie auf einer Höhe und lässt sie später unter sich. Wir haben den ersten Anstieg hinter uns und können ein wenig auspusten. Leider wird es bald noch stärker und länger bergauf gehen. Wir fahren nämlich auf Hollands höchsten Berg, den Drielandenpunt. Das hätte ich eben im Heckengang selbst nicht erwartet. Doch sag mal, soll man sich nicht erst recht mühen, wenn man eigentlich gar nicht will?

Was soll das heißen, du hättest mir vertraut, dass die Fahrt nicht besonders beschwerlich werden würde? Davon war nie die Rede. Es gibt eine Reihe guter Gründe, den Dreiländerweg hoch zu fahren. Wir lassen die Stadt bald unter uns. Der Weg führt durch eine prächtige Hügellandschaft und gewährt schöne Ausblicke auf die Stadt, die Höhenrücken des Aachener Kessels und der Eifel. Nach Nordwest sehen wir in die Niederlande hinein. Von dort weht der Wind; also wird er uns schieben, wenn wir zurückfahren. Und alles, was wir beim Klettern an Energie aufwenden, bekommen wir bei der Abfahrt zurück. Mit jedem Tritt die Serpentinen hinauf, sammeln wir kinetische Energie in uns an. Wenn wir dann später über das Plateau des Dreilandenpunts bummeln, sind wir damit aufgeladen. Die Energie lässt sich nicht messen, doch sie ist real vorhanden. Angenommen, du würdest nicht mehr mit mir zurückfahren, sondern auf dem Drielandenpunt siedeln. Dann würdest du deinen Kindern die angesammelte Energie vererben. Dank dieser Energie könnten sie einmal nach Aachen hinabfahren, ohne eine eigene Leistung erbracht zu haben.

Wenn sie faul sind, siedeln sie anschließend in der Stadt. Dann haben sie dein Erbe verjubelt, aber nicht die geringste Lust, es wieder anzufüllen. So ähnlich funktioniert soziale Energie, findest du nicht? Die Familien mit altem Geld haben am meisten davon. Irgendein Vorfahr hat sich ordentlich gemüht, hat als Strauchdieb hinter Hecken gelegen und vorbeiziehende Kaufleute gemeuchelt, war Raubritter, Zolleintreiber oder hat Postkutschen überfallen. Das waren allesamt mühevolle Tätigkeiten, woran man sieht, dass Mühe nicht unbedingt allgemein akzeptabel sein muss. Die Nachfahren konnten sich dann schon Vasallen leisten, die das mühevolle Rauben und Plündern für sie erledigten. Das wiederum erlaubte ihnen, sich achtbar zu geben und weniger anrüchigen Tätigkeiten nachzugehen. Irgendwann fragt niemand mehr nach der Herkunft der Reichtümer. So können die Nachfahren der Strauchdiebe die Nase hoch tragen.

Vererbte soziale Energie hat natürlich nicht nur etwas mit Geld und Besitz zu tun. Vererbt werden auch Verhaltensweisen, Kenntnisse und Fähigkeiten. Man lässt die Kinder nicht einfach ins Leben hinabrollen, sondern bringt ihnen bei, wie man sich geschickt um den Erhalt und die Anhäufung des Erbes bemüht, so dass körperliche Leistung unnötig wird. Zum sozialen Status gehört nämlich, dass man sich körperlich nur noch in spielerischer Form betätigt, beim Tennis, auf dem Golfplatz oder beim Segeln. Es liegt gewiss eine Form von Glück in diesem Leben. Es ist jedoch nicht die einzige und auch nicht die beste Form. Weißt du, was ich glaube? Wir leiden an der mentalen Schweinepest.

Keine Sorge, ich zähle jetzt nicht alle Erscheinungen der mentalen Schweinepest auf, die sich in unserer Gesellschaft beobachten lassen. Es reicht ja zu sagen, dass die über Generationen vererbte Raubgesinnung inzwischen alles zu verdrängen droht, was den Menschen zum sozialen Wesen macht. Alle gesellschaftlichen Schichten sind infiziert von Geldgier. Und es braucht sich niemand auf’s hohe Ross zu setzten, wenn ihn die Seuche nur in schwacher Form erwischt hat. Resistenz ist ein Glücksfall und beruht nur zum Teil auf eigenen Mühen.

Weißt du, warum
man in manchen Ländern nicht gegen Schweinepest impft? Dann weiß man nicht, wo die Erreger sitzen. Ein geimpftes Schwein, das äußerlich gesund wirkt, kann ungeimpfte Schweine anstecken. So lassen sich die Seuchenherde nicht erkennen, und das macht die Bekämpfung schwierig. Darum finde ich übrigens auch jede Sprachpflege falsch. Wenn die Bahn zum Beispiel sich ins Englische flüchtet, dann ist diese Sprache ein Indiz der Gesinnung. Es kennzeichnet die Abwendung vom einfachen Menschen hin zu einer nebulösen Idee von Globalität. Ein Nahschnellverkehrszug passt nicht mehr in dieses Bild, er muss Regionalexpress heißen. Die Sprachpfleger prangern den Fremdwortgebrauch bei der Bahn an und wollten das Englische am liebsten verbieten wie es die Akademie Francaise macht. Das wäre wie Impfen bei Schweinepest.

„Wir sind wieder im Spiel“, sagte ein glücklicher Investmentbanker in ein Fernsehmikrophon, nachdem seine Bank von Steuerzahlern gerettet worden war. Und ein Börsenberichterstatter sagte: „Die Kuh ist noch nicht vom Eis. Sie hat aber schon den Strick um den Hals.“ Wunderbar! Wer wollte verbieten, dass sich durchgeknallte Kindsköpfe äußern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Komisch, ich wundere mich, dass es seit Bastian Sicks sagenhaftem Aufstieg zum nationalen Sprachpfleger unzählige Oberlehrer-Laiendarsteller gibt, die jedem englischen Fremdwort, jedem falschen Konjunktiv hinterhernörgeln. Das sind dieselben Typen, die die Fugen ihrer Garagenauffahrt mit dem Kärcher ausblasen. Irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen haben ihre Mühen weder hier noch da. Das sind alles nur Verschleierungsapostel, und Sick ist ihr falscher Prophet.

Pass auf, bevor du
Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger
sagen kannst, haben wir die letzte Serpentine hinter uns und sind oben. „Apotheker“? Für das blöde deutsche Kompositum reicht deine Puste wohl nicht. Wir halten mal, damit du die Aussicht genießen kannst. Ist es nicht erstaunlich, wie hoch man sich aus eigener Kraft erheben kann? Es hat ja nicht jeder die ererbte Fähigkeit, sich sein Wohlleben durch müßige Tätigkeiten zu ergaunern. Wem diese Form der sozialen Energie nicht mitgegeben wurde, der kann es natürlich trotzdem zu was bringen. Vielleicht eröffnet er ein Callcenter, erwirbt geklaute Telekom-Kunden-Daten und macht sein Glück mit dem Verkauf der Daten an Pornohändler. Das ist zwar ein bisschen anrüchig, braucht ihn aber nicht zu kümmern, sobald er sich finanziell saniert hat und in Drei-Sterne-Lokalen speist. Käme er aus einem anderen Elternhaus und hätte man ihm auf Elite-Universitäten die hohe Schule der Betriebswirtschaft beigebracht, könnte er sich subtiler hochgaunern. Irgendwer muss ja der einschlägigen Klientel die Schlupflöcher in Steuergesetzen aufzeigen, damit sie ihr Geld in dunkle Kanäle abführen können. Die meisten jedoch müssen sich billiger verkaufen, weil es ihnen an Spezialwissen fehlt. Sie sind keine Leistungsträger, sondern Leistungsempfänger, empfangen Gehalt, Lohn oder Sozialleistungen. Alles wird ihnen nur huldvoll gewährt, denn sie machen nicht mit im großen Spiel, haben nur einen kleinen Kopf, nur kleines Geld, drehen nur ein kleines Rad ihrer privaten Notwendigkeiten und kleinen Vergnügungen.

Ein kleines Vergnügen für kleine Köpfe bietet auch Dreiländerpunkt mit seinen Andenkenbuden, Cafes, den Aussichtstürmen und dem Heckenlabyrinth. Abseits des Trubels führt ein Weg durch den Wald, am Rand des Hochplateaus entlang. Hier können wir hübsch auf einem Baumstamm sitzen und in die Sonne blinzeln. Da unten im Dunst liegt Belgien. Man sieht es gegen die Sonne kaum, doch du kannst mir vertrauen, wenn du nicht auch vom großen Vertrauensverlust befallen bist, der durch viele Milliarden nicht wiederhergestellt werden kann. Das Wort „Vertrauen“ ist übrigens verwandt mit „treu“, und „treu“ wiederum bedeutet „standhaft wie ein Baum“. Kannst du dir vorstellen, dass unsere heutigen Politiker standhaft sind wie die mächtigen Fichten hinter uns? Ich finde, je öfter Merkel und Konsorten vom Vertrauen reden, das man wiedergewinnen müsse, umso weniger wissen sie, was das Wort bedeutet. Den Effekt kennst du ja: Wenn du ein Wort häufig hintereinander sagst, schwindet sein Sinn, und am Ende klingt es wie Lallen. Es scheint, als würden sich die Mächtigen in Politik und Wirtschaft große Mühe geben, allen Sinn zu zerreden, die kleinen Köpfe zu verwirren, denn rechtfertigen lässt sich das irrwitzige Geschehen in der Welt schon lange nicht mehr.

Ach komm, wir lösen jetzt ein, was wir mühsam erstrampelt haben und rollen mit Rückenwind bergab nach Hause, steuern die Windungen des Dreiländerwegs hinab, genießen das Knistern und Knacken unter den Reifen und das Rauschen des Fahrtwinds in den Ohren. Wir mühen uns nicht mehr, sondern lassen einfach geschehen, denn dieses Vergnügen haben wir uns ehrlich verdient. Das ist ein „Kick voor nix“. Du kannst ihn nicht erkaufen.

Dieser Beitrag wurde unter Teppichhaus Intern abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

0 Kommentare zu Sonntagstour – Nicht gegen Schweinepest impfen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.