Wild gewachsene Schwerkraft – Tour in fünf Etappen

Fünf

Den nordöstlichen Hang des Aachener Lousbergs hinunter erstreckt sich ein verwilderter Park, der zu einem Kloster im Tal der Soers gehört. Ein Kranz aus hohen Buchen und Kleingehölz umschließt eine ausgedehnte Hangwiese. Im Talgrund liegt ein stiller Teich. Jahrzehnte hat er kaum je Besucher gehabt, denn der Klosterpark war nur vom Kloster aus zugänglich. An den Lousberg grenzt der kleinere Salvatorberg. Am Pass beginnt die Buchenallee. Sie ist von Buchen gesäumt, deren Kronen den Weg überspannen, und führt bis zum Ende des Lousbergs am Hang entlang. Bei sommerlicher Hitze bieten die Buchen angenehme Kühle. Zudem weht von den Wiesen beständig ein Luftzug herauf, fängt sich in den Blättern und erfrischt den Geist. Links steigt der Lousberg auf, rechts geht der Blick über das Soerstal hinweg, bis hin zum Höhenzug des Aachener Kessels. Am Horizont steht die mächtige weiße Fahne eines Kühlturms, so dass man denken könnte, dort werden die Wolken gemacht.

Auf halber Höhe beschreibt die Buchenallee eine S-Kurve und führt steiler bergauf. Anfangs der Kurve beginnt der Klosterpark. Die Sicht wird von einer Ziegelmauer versperrt. Seit einigen Monaten steht die Pforte offen. Hinter der Pforte geht es ziemlich steil bergab. Einige Wegpassagen haben aus Ziegeln gemauerte Stufen. Herabströmendes Wasser hat die Fugen ausgewaschen, so dass die Tritte wie lückenhafte Gebisse sind, aus denen sich weitere Zähne lockern. An anderen Stellen sind die Stufen unter dem Waldboden verschwunden. Hier war einmal ein ordnender Geist am Werk gewesen, der Halt geben wollte. Er ist weg, und jetzt herrschen andere Kräfte.

Wenn du mitkommst, dann auf eigene Gefahr. So steht es auf dem Schild am Eingang. Man braucht einen langen Atem, denn der Abstieg zieht an den Kräften. Zum Glück scheint heute eine kalte Sonne. Bei Regen wäre der Weg nicht zu wagen. Trotzdem ist nicht ausgemacht, ob wir heil hinunter kommen und erst recht nicht, ob wir später vom Tal aus die Kurve kriegen und den Wiederaufstieg zur Buchenallee schaffen. Mir scheint es sogar unwahrscheinlich. Denn der Park ist nicht so idyllisch wie er auf den ersten Blick scheint. Beim Hinsehen zeigt sich dieses ungeheuerliche Morden und Fressen, aus dem Leben besteht. Du kannst dich im Augenblick sicher wähnen, doch im Mäusehaus herrscht gerade Panik, weil drüben über der Lichtung ein stattliches Raubvogelpaar seine Kreise zieht.

Vier

Eingang Klosterpark

Sobald wir nicht mehr hintereinander absteigen müssen, da vorn zwischen den mächtigen Buchen, möchte ich dir etwas erzählen, worüber ich seit langem nachdenke. Heute Mittag habe ich eine Weile am Münsterplatz in der Sonne gesessen, mal dem bunten Treiben zugeschaut, mal in mein Blöckchen gekritzelt, worüber ich mit dir reden möchte. Der Kaffee wurde kalt, das Blöckchen war bald voll, und dann packt mich die Ungeduld und ich fuhr nach Hause. Natürlich lese ich dir nichts aus meinem Notizbüchlein vor. Stift und Papier haben ja nur geholfen, die Gedanken zu Ende zu denken und zu ordnen.

Vor einigen Jahren traf ich zwei Jugendfreunde wieder, die ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte. Wir fuhren für drei Tage auf die Insel Texel, wo wir damals zusammen gewesen waren. Während dieser nostalgischen Tour wurde mir eine Illusion geraubt. Einer der beiden Freunde war zu meinem Erstaunen in die Chefetage eines weltweit operierenden Unternehmens aufgestiegen. Er hatte nur die Handelsschule besucht, doch offenbar hatte man ihm dort das Rechnen beigebracht. Zuletzt flog er in der Welt umher und betreute die vielen Niederlassungen des Unternehmens. Dann musste er nacheinander zuerst die spanische, dann die englische Filiale schließen. Die Mitarbeiter dort zu entlassen, fiel ihm schwer. Er schlief schlecht, denn es plagte ihn das schlechte Gewissen. Die Londoner Niederlassung hatte Gewinne gemacht, und es gab zwar einen Grund, aber keinen vernünftigen Grund, sie zu schließen. Einer aus dem Vorstand des Mutterkonzerns hatte eine Geliebte in London gehabt und war regelmäßig hingeflogen, wobei ihm die dortige Niederlassung einen guten Vorwand bot. Dann war die Beziehung in die Brüche gegangen, weshalb der Mann das Interesse an London verlor und die Schließung der Niederlassung anordnete. Mein Freund hatte diese irrationale Entscheidung ins Werk gesetzt und erwog seither, den Job zu schmeißen.

Drei

Seinen Bericht mochte ich gar nicht glauben, denn ich hatte mir vorgestellt, auf den Vorstandsetagen würde nach streng rationalen Gesichtspunkten entschieden, abseits von Sentiment und allein den Kapitaleignern verpflichtet. Denn ist es nicht das, was sie uns immer erzählen? Sie entlassen trotz fetter Gewinne tausende Mitarbeiter, und regt sich Kritik, dann schicken sie ihre hoch bezahlten Vasallen in die Talkshows und lassen verkünden, dass man leider so handeln musste, um das Unternehmen sicher aufzustellen. Es gelte, den stets drohenden feindlichen Übernahmen zu begegnen, also brauche man Geld, um seinerseits Unternehmen zu schlucken. Gekaufte Wirtschaftsprofessoren predigen Lohndumping, eitle Chefredakteure von Finanzzeitschriften beklagen die deutsche Gesetzgebung als schier unüberwindbares Hindernis für den Aufschwung, neoliberale Politiker schwafeln von den Kräften der Globalisierung, denen man nur mit der Abschaffung sozialer Errungenschaften wirksam begegnen könne, – und das dumme Vieh nickt ab und fügt sich, weil ja nie die Rede davon ist, dass es nicht um Unvermeidliches, sondern um Entscheidungen von Personen geht, bei denen der Schwanz, die Geldgeilheit oder beides regieren.

Derzeit reichen alle rhetorischen Winkelzüge nicht aus, das Desaster in der Welt zu beschönigen, das durchgeknallte Investment-Banker angerichtet haben. Es fehlen selbst dem neoliberalen Gesocks die Worte angesichts der Billionen, die weltweit verpulvert wurden. Keiner weiß Rat, niemand weiß, welche Erschütterungen noch kommen und wen sie mitreißen werden. Nervosität macht unvorsichtig. Plötzlich zeigt sich die verlogene Gesinnung der Eliten fast unbemäntelt, und wer gut zuhört, kann erstaunliche Bekenntnisse hören, die alles bezeugen, was man sich nicht ausmalen wollte, da sie bar sind jeder Vernunft und Verantwortung.

Zwei

abwärtsWas ist? Ich habe doch gesagt, der Weg ist steil. Halt dich an einem Zweig fest, bevor du abrutschst. Wir sind ja auch schon bald unten, und können uns auf der Bank am Teich ausruhen. Es wird dir gefallen – da ist noch Sonne. Ein dutzend Tritte über die alten Stufen, und wir haben es vorerst geschafft. Wenn du hier strauchelst, liegt es in deiner Verantwortung.

Weißt du, was mich am meisten erstaunt? Am Sturz der Banken ist niemand verantwortlich. Das hat Hilmar Kopper, der Exvorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, im Fernsehen gesagt. Wenn der kleine Finanzmakler am Computer riskante Geschäfte macht, dann tut er das nicht aus Bosheit, sondern aus Not. Wenn er sich weigert, macht er geringere Gewinne als seine Kollegen und muss seine Entlassung fürchten. Das ist einfach so: Die Gesetze des Marktes richten sich immer nach den übelsten Gaunern. Um Schaden abzuwenden, muss man es machen wie sie.

Warum der Staat nicht den schändlichen Verkauf von Haushypotheken an Finanzinvestoren verbietet, wurde Hans Eichel gefragt. Er sagte, dass man den Banken diese Möglichkeiten nicht ganz verwehren dürfe, denn wenn sie einmal kurzfristig klamm sind, weil sie sich beispielsweise mit faulen Finanzpaketen verspekuliert haben, könnten sie sich mit dem Verhökern von Hausbesitzerschicksalen frisches Kapital besorgen. Das ist ulkig, findest du nicht? Der kleine Haubesitzer wird ja nicht gefragt, ob er seiner Großbank mal eben aushelfen will. Seine Existenz, seine Nöte, wenn sein Haus versteigert wird, – kannste vergessen. Leute wie Guido Westerwelle wollen unser Land gänzlich nach diesen Marktgesetzen ausrichten. Der Staat solle sich raushalten und die hemmenden Gesetze abschaffen. Die Politik verstehe sowieso nichts von Wirtschaft, tönte der smarte Chefredakteur, daher sei die IKB in die Pleite gegangen wie auch einige Landesbanken in Öffentlicher Hand. Was die Finanz-Experten und Banker von Wirtschaft verstehen, dürfen wir derzeit erleben. Was wäre, wenn ein schwacher Staat seine Bürger ganz dem Schalten und Walten dieser Leute aussetzen würde?

Sag mal, hat nicht die Raubtier-Wirtschaft längst die Erziehung unserer Kinder übernommen? Vor einigen Jahren habe ich in einem Reisekatalog für Formel-1-Reisen etwas über den exklusiven Paddockclub nahe der Boxengasse gelesen.

Eins

Den Paddockclub, in dem sich die Reichen und Schönen der Welt treffen, diesen heiligen Grund darf man nur mit geputzten Schuhen betreten, weshalb man sicherheitshalber einen Schuhputzer bereithält, falls ein russischer Oligarch noch den Dreck seiner Karriere an den Füßen hat oder so. Du kannst der größte Halunke auf diesem Erball sein, solange man dir nichts beweisen kann, öffnen dir deine geputzten Schuhe alle Türen. Du musst sie nicht mal eintreten, wie du es früher vielleicht gemacht hast.

Die Überbetonung der Äußerlichkeit geht einher mit einem Verlust an Sozialfähigkeit. Und darauf werden bereits die Kinder getrimmt. Von allen Seiten wird getutet und geblasen, was sie unbedingt haben müssen, um ein glücklicher Affe zu sein. Erstklässler beginnen schon, sich zu stylen, Kleidung und Schulzeug müssen von bestimmten Marken sein, und wer da nicht mithalten kann oder will, ist ein Verlierer oder Außenseiter. Echt, ich habe nicht die geringste Lust, das weiter auszumalen. Sonst kriegen wir hier im kalten Schatten das Grausen. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank hat jetzt ausgeführt, dass (wohl übertragen gemeint) die Eltern die Schuld an der Finanzkrise tragen. Sie erziehen ihre Kinder nicht mehr, bringen ihnen keine Moral und kein Selbstwertgefühl mehr bei. Übersetzt heißt das: Unsere Elternhäuser bringen charakterliche Wracks hervor, die sich später von Banken- und Wirtschaftsbossen zu Raubtierpraktiken verführen lassen. Da trifft natürlich die Wirtschaft keine Schuld. Wenn sich ihnen nur Charakterschweine andienen, was sollen sie machen? Zum Glück können die Verantwortlichen ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Dort wird ihnen dann die hohe Schule der Niedertracht beigebracht, damit sie lernen, den Pöbel zu bändigen, der in der rauen Welt ganz unten heranwächst.

Tut mir leid, ich hätte dir sagen sollen, dass uns im Talgrund Sumpf und Schlamm erwarten. Wir haben immerhin den kürzesten Weg hindurch genommen, den ich grad mal finden konnte. Dort drüben führt ein Steg zum Teich. Wir können auf der Bank sitzen, bis die Sonne hinter dem Lousberg verschwunden ist. Der Blick auf Teich und Hangwiese entschädigt für den schwierigen Abstieg. Und sitzt du hier eine Weile, dann kommt dir das ganze Debakel gleich unwirklich vor. Leider kann ich keine Witze erzählen. Ich vergesse nämlich auch von den besten Witzen immerzu den Anfang, den Mittelteil und dann den Schluss.

Wie es wirklich ist, sehen wir früh genug. Mag noch gar nicht dran denken. Wenn wir die Lichtung umrundet haben, steht der Aufstieg an. Da sind die schlammigen Wege von schweren Maschinen zerfahren, und kreuz und quer liegen gefällte Bäume und Knüppel. Trittsteine finden sich kaum. Wir müssen selbst Hand anlegen und wenigstens das Gestrüpp wegräumen. Das geht hier leichter als in der Gesellschaft. Ihr Zustand ist ja nicht rein versehentlich so erbärmlich. Die mit dem wirklich großen Geld bestimmen dieses Geschehen und nehmen die Verelendung vieler Menschen billigend in Kauf. Und selbst demokratischen Regierungen sind zu schwach, ihnen zu widerstehen. Denn die meisten von uns tun sich raus. Wir lassen die Politiker wurschteln und wollen uns nicht für eine menschenwürdige Gesellschaft einsetzen. Viel zu anstrengend. Wir betrachten am liebsten die Oberflächen, solange wir uns darin gespiegelt finden. Wo die Trittsteine wackeln, sucht jeder seinen eigenen Weg. Das nennt sich Individualismus. Wie können aber so viele Individualisten vorankommen, ohne den Park zu zertrampeln? Die Macht der Kirche ist dahin, und die Macht des Geldes ist Sumpf, Schlamm und tiefer Kot. Da soll uns niemand erzählen, das sei der beste Weg für die Gattung Mensch. Wenn wir wieder hinauf wollen, müssen wir politisch denken und sozial handeln, und zwar möglichst bald, bevor wir bis zum Hals und so …

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