2. interaktives Literaturexperiment im Teppichhaus – Unfreiwillige Archäologie des Alltags – Ein Tagebuch

Der folgende Text ist das Ergebnis des zweiten interaktiven Literaturexperiments im Teppichhaus Trithemius. Näheres über die Experimentbedingungen hier. Es haben sich zehn Autoren beteiligt. Die Texte sind geringfügig redigiert, damit sie zueinander passen, und mit dem Bildmaterial illustriert, auf das sich die Teilnehmer beim Schreiben bezogen haben.

Gute Unterhaltung und viel Vergnügen beim Lesen,
Trithemius


1. August anno 1908
Es wird derzeit viel disputiert über eine mächtige Explosion, die sich am 30. Juni 1908 im fernen Sibirien ereignet haben soll. Die Ursache ist nach wie vor rätselhaft, wie wohl die Nachrichten aus den russischen Landen nur spärlich fließen. Die Redaktionsleitung hat den Korrespondenten M. zum Flusse Tunguska gesandt, doch er kehrte vorgestern unverrichteter Dinge zurück. Man hatte ihn an der Grenze zurückgewiesen, seine Schreibmaschine aber als ‚revolutionäres Werkzeug‘ beschlagnahmt, was wieder einmal ein Beispiel der bekannten Unwissenheit russischer Beamter ist. Gestern erzählte mir M. von der abenteuerlichen Theorie eines Engländers, daß am Flusse Tunguska ein Asteroid aus Antimaterie niedergegangen sei, der ein großes Loch in die sibirische Taiga geschlagen habe, das fürderhin wachsen werde, indem es alles in seiner Umgebung verschlingt. „Die Idee der Antimaterie entstammt wohl einem utopischen Roman“, wandte ich ein und ließ ihn stehen. Sei’s drum. Sibirien ist schier unermesslich und so gut wie unbewohnt. Selbst ganze Landestriche könnten dort verschwinden, ohne daß die zivilisierte Welt Schaden nähme.

Eben noch habe ich in der Zeitungssetzerei gestanden, um mit dem 1. Setzer die Schlußkorrektur der Titelseite zu machen. Da gerieten wir in Streit über die Unterzeile „Explosion in Sibirien – Russland verweigert sich jeder Hülfe“. Am Ende zog der sture Kerl die Zeile aus der Satzform, schritt zur Linotype-Setzmaschine hinüber, und indem er dem Maschinensetzer befahl, „Hilfe“ statt „Hülfe“ zu setzen, warf er meine Unterzeile in den Schmelztiegel. So zerrann die „Hülfe“ im flüssigen Blei. Ich dachte noch: „Es ist ein Elend. Man erkennt sein eigen Werk nicht mehr, wenn es aus der Druckerei kommt.“ Da plötzlich wurde mir schwarz vor Augen, und wie ich an einem Setzkasten Halt suchte, griff ich hindurch. Mit dem Setzkasten verschwand die vertraute Welt! Ich fand mich wieder – auf den Straßen einer mir unbekannten Stadt, – am 1. August 2008! O Gott! Mir wird schier schwindlig, dieses Datum zu schreiben. Doch ich habe es schwarz auf weiß auf einem Zeitungstitel gelesen. Aus mir unerfindlichen Gründen bin ich durch die Zeit geschleudert worden. Einhundert Jahre!!! Wieso genau einhundert Jahre?

Diese Welt ist mir schier unfaßbar fremd und doch zuweilen träumerisch vertraut. Mal verengt sich mein Herz, wenn ich an die Zeit denke, aus der ich komme und an die mir teuren Menschen, die nun längst das Zeitliche gesegnet haben, mal erfaßt mich eine nüchterne Neugier, dann wieder eine überbordende Lustigkeit. „Das also ist die Zukunft der Menschheit, hehehe und hoha!“ Was tue ich hier? Und warum trage ich einen Hut, der gleich einem Chamäleon seine Farbe wechselt, wann immer meine Stimmung sich wandelt? Ich habe Angst, den Verstand zu verlieren. Daher will ich Halt im Schreiben suchen, die seltsamen Beobachtungen notieren und meine Schlüsse daraus ziehen.

Tagebuch

NetRat
Merkwürdig ist diese Welt. Dauernd treten wildfremde Personen an mich heran und wollen mir buntfarbige Melonen überstülpen, und sie fordern mich zur Aufgabe auf, als wäre ich ein Ringer, der sein Unterliegen nicht erkennt. Ich verstehe das nicht, alle höfliche Bitte um Erklärung und Unterlassung bleibt ohne Nutzen, mittlerweile sind mir von Fremden fünf Hüte übereinander aufgestülpt worden, und ein kleines, unglaublich fettes Kind mit einem flimmernden mechanischen Spielzeug in der Hand bot mir an, mich zu „ßkeipen oder sümmsen“. Falls ich jemals in meine Zeit zurückkehre – wird auch hier wieder das „ü“ vom Schmelzofen genommen werden?

Theobromina
Wie sich die Welt verändert hat! Und wie die Menschen gleich geblieben sind! Mein Hut ist mit einem Mal weiß, ich irre durch die Stadt, welche mir unbekannt, und sehe: Ein mürrisches Gesicht ist noch immer ein mürrisches Gesicht, auch wenn die Kleidung inzwischen anderen Moden gehorcht. Ich muss nun bald jemanden finden, der mir hilft, mir Auskunft geben kann, allein finde ich mich nicht zurecht. Als ich um eine Straßenecke biege, sehe ich zweierlei: Ein Ladengeschäft, in dem in Bälde eine Eiszeit stattfinden soll und einen Admiral, der mir ebenso ein Zeitreisender scheint wie ich! Seine Kleidung lässt darauf schließen, auch seine Gesichtsfarbe sagt mir, er muss schon lang unterwegs sein. Das Glück scheint mir hold. Doch als ich ihn anspreche, antwortet er mir partout nicht. Wie unhöflich das ist! Oder habe ich die falsche Anrede gewählt?

Ich würde gern mehr über diese demnächst stattfindende Eiszeit erfahren. Scheinbar kommt so etwas inzwischen häufiger vor, vielleicht arrangiert, zur Belustigung eines illustren Publikums. Das würde erklären, warum es in einem Ladengeschäft geschieht. Wie viel muss man wohl zahlen, um so etwas zu sehen? Habe ich überhaupt Geld dabei? Ach da sind noch 30 Reichsmark in der Rocktasche. Ob ich damit noch etwas ausrichten kann? Vermutlich nicht. Bedauerlich, 30 Mark sind doch Einiges an Geld.
Bild 14
Warum nur haben sie diese Bretter vor der Tür gestapelt? Dienen sie irgendeinem Schutz? Oder sollen sie Schaulustige abhalten, die den Eintrittspreis nicht aufbringen wollen? Wie gern würde ich den Admiral fragen, doch er rührt sich nicht. Stünde er nicht so aufrecht da, müsste ich annehmen, er sei nicht mehr unter den Lebenden. Es muss etwas sein, das mit diesen neuen Zeiten zu tun hat. Jetzt wirft ein Passant Geld in die Schale zu seinen Füßen, – und er bewegt sich! Das ist es! Nun erkenne ich meinen Fehler, es ist ein Automat! Aber mit welcher Finesse ausgeführt!

Plötzlich ist mir zum Lachen, der Hut wechselt schon wieder seine Farbe, wird rot, und das allein vergnügt mich. Was soll es denn, mir bleibt nichts, als endlich jemanden anzusprechen. Dort der Mann hat ein freundliches Gesicht. Er schaut zwischen dem Admiral und mir hin und her. Als ich ihn anspreche, ihm meine Situation erkläre, lacht er und sagt: „Na, ihr seid mir ja’n dolles Pärchen! Nix für ungut Kollege, schön’ Tach noch!“ Er geht weiter, und bevor ich noch etwas sagen kann, hat er mir ein glänzendes Geldstück mit einem Goldrand in die ausgestreckte Hand gedrückt. Als mein Erstaunen abklingt, weiß ich, wie ich mir zumindest mein Brot und die Herberge für heute verdienen kann…

Spieler7
Vorsichtig schiele ich nach oben, natürlich, der Hut ist schwarz: Kritisches Denken gehört schließlich zum Handwerkszeug des Journalisten-Berufs, wie ich ihn praktiziere. Das hilft mir zugegebenermaßen jetzt nicht unbedingt weiter, aber es ist immer entscheidend, die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Vorsichtig schreite ich voran, immer auf der Hut (sic!) vor unbekannten Gefahren, potenziellen Feinden und universellen Bedrohungen. Aber hallo, was ist das? Schon wechselt die Farbe der Kopfdeckung zügig über weiß auf ein fröhliches gelb durch; auch hundert Jahre später hat sich die Menschheit den Sinn für Absurditäten bewahrt, sie werden immer noch gehegt und gepflegt wie zarte Pflänzchen und das Herz hüpft mir im Leibe ein Stückchen höher vor lauter Rührung.

Ich zwinge den Hut kraft meines Willens auf weiß zurück, immerhin gilt nach wie vor der oberste Grundsatz der objektiven Berichterstattung und ich bin noch den Grund für meinen Heiterkeitsausbruch schuldig: In einem Fenster verkündet ein Plakat gebieterisch, dass eben das Anbringen dieser verboten sei! Darüber hängen noch einige kleinere Zettel, die aber kein Mensch lesen kann, das ist Dada pur! Ich halte mich nicht lange mit lästigen Gedanken auf, wieso ich über diese Kunstform Informationen in meinem momentan arg strapazierten Gehirn habe und gehe weiter meines Wegs, als ob ich genau wüsste, was ich täte.
Spieler7
Schon zeigt das Hütlein ein vorsichtiges Grün, als mir ein weiteres Fenster frech Reduktionen „bis zu 50%“ verspricht, nicht etwa „um bis zu 50%“, nein, die neue späte Welt ist offenbar von einem eisernen Sparwillen beseelt, auch wenn es nur um harmlose Wörtlein geht. Souverän schreitet eine weibliche Person unbestimmbaren Alters, offenbar bestens vertraut mit diesen mir noch fremdartigen Gebräuchen an der geheimnisvollen Botschaft vorbei, in einer Tasche hat sie schon alles, was sie braucht. Überwältigt von so viel Surrealität beschließe ich endgültig, mich auf das Experiment einzulassen, das neue Leben und seine skurrilen Bewohner mit offenen Armen zu empfangen und wechsle die Hutfarbe flugs auf rot, denn hier bleibe ich die nächsten hundert Jahre!

pocemon
Bin ich 100 Jahre älter? Ich glaube nicht, selber bin ich immer noch der Gleiche, aber die Andern? Was ist das für eine Welt, wo bin ich, was sind das für fremdartige Menschen? Nur mein farbiger Hut passt ins Stadtbild, sonst sieht man, dass ich nicht von hier bin. Farbiger Hut? Er hat sich beruhigt und ist jetzt nur noch gelb, ich trage einen gelben Hut.

Neugierig laufe ich weiter, ich werde beobachtet, aber es stört mich nicht mehr. Es ist eine lebendige Stadt, die Leute haben es eilig, ich habe Zeit und beobachte, leider verstehe ich nicht alles und will niemand stören, sonst würde ich gerne fragen, Notizen machen, Skizzen anfertigen. Mein Gedächtnis muss genügen, alles kann man nicht allein machen. Bei einem großen Haus, bleibe ich stehen, Orgelmusik tönt ganz leise, schöne, farbige Glasfenster, vermutlich eine Kirche oder eine Kapelle.

Soll ich eintreten, mit meinen alten Kleidern und dem gelben Hut? Nein, besser ich bleibe auf der Strasse. Neben dem Haupteingang stehen einige Kraftfahrzeuge. Es müssen Kraftfahrzeuge sein, Pferde sehe ich keine. Ein großes Fahrzeug ist ganz weiß und hat keine Fenster, ein kleines hat viele Fernster und ist komisch grün. Es hat auch Beschriftungen, eine Nummer, ganz schmutzig, man kann die Zahlen nicht einmal richtig lesen. Auf dem Fenster steht „WWW.KLAMOTTENROLF.DE“. Ich versuche diese Wörter zu verstehen, als mich ein junger Mann anspricht:
„Kann ich helfen?“.
„Nein…oder vielleicht doch…“ antworte ich ganz verlegen, ich werde leicht rot und überlege mir, wie das Gespräch weiter gehen soll“.
„Ich bin Student und wohne hier in Aachen, gerne helfe ich den Touristen“.
„Ich bin kein Tour…, ich bin Mitarbeiter einer Zeitung“.
„Aha, interessant“
„Was soll diese Beschriftung auf dem Fahrzeug?“
„Das ist eine Internetadresse, wie eine Telefonnummer“.
Telefon hatte ich schon einmal gesehen, aber Internet, was ist das?
Der junge Mann versucht es mir zu erklären, ich verstehe nicht viel, am Schluss sage ich:
„So eine Mischung von Telefon und Zeitung?“

Der Junge lachte und wünscht mir einen schönen Tag. Mir ist heiß. Ich nehme den Hut in die Hand, er ist immer noch gelb. Weiterlaufen, die Stadt ist so interessant, es gibt sicher noch viel zu sehen.

Bild 17

Inlimbo
Der Gang durch die Stadt zerreißt doch auf befremdliche Weise mein doch so liebgewonnenes Weltbild… nach der Katastrophe scheint nichts mehr wie früher und das jetzt nach nunmehr doch einhundert Jahren, wenn ich den Zeitungen in den Auslagen glauben schenken darf…

Überall hat der neuerliche Urknall seine unbarmherzigen Auswirkungen spüren lassen: Dort drüben kratzen sich Menschen am Kopf hier sitzt, mir ganz nah, ein Opfer dieser scheinbar weitervererbbaren Kopfekzeme. Überall muss gespart werden, Plakate sind verboten, man hat nur Geld für aggressivste Werbung; alles wird um 50 Prozent reduziert, um die vor hundert Jahren begonnenen einschneidenden Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses wenigstens im Versuch zu kompensieren. Menschenmassen suchen nach diesem unsichtbaren Unglück, auch jetzt noch. Das Ergebnis sind leere Cafés, man kann sich einfach nicht mehr freuen, es ist katastrophal! Um doch das Unsichtbare zu entdecken, werden Sehtests allerorten angeboten, der verunsicherte Mensch will seinem unfairen Gegner ins Antlitz blicken. Es wird akribisch in allen Gassen nach dem NICHTS gesucht.. selbst die Aristokratie schälte sich verängstigt durch die Berichte und Greuel aus dem Sessel, um NICHTS zu sehen. Die Regierung bietet Gratiskurse im Handlesen wie auch im Handauflegen an. Nichts bleibt unversucht, denn der Feind ist allgegenwärtig.
Inlimbo
Es gibt mietbare Schutzhütten, fahrbare strahlungsundurchlässige Mietwohnungen, Weißmacher halten absichtlich mit Unwahrheiten das Volk bei Laune, Schwarzmaler bewirken das Gegenteil, alles gerät aus den Fugen, in den Kirchen sieht man keine Klarheit, sondern eher eine religiöse Batik, und das Papamobil beweist es: wir sind Modepapst.

Schutzhüttenwucher und gewinnsüchtige Strategien machen vor diesem Trauerspiel keinen Halt; findige Geldhaie verkaufen „nichts“ als Schutz: Polster als Strahlungssicherheit wird angepriesen, welch Irrsinn!!! Natürliche Schutzzonen zum Anessen sind das Gebot der Stunde! Die Menschheit ist durch diese Entwicklungen bis aufs Äußerste gereizt, es gibt erste, wenn auch nur verbale, Revolten, und die Natur holt sich ihr vor alter zeit gestohlenes Terrain zurück. hier erobert sie in einer begrünungsoffensive ein Fahrrad der Stadtverwaltung. Hut ab (egal , von welcher Farbe er zu sein scheint), vor diesen doch natürlichen Heilkräften!

Merzmensch
Mein Hut färbt sich gelb, o Graus. Welch endlose Wehmut ergreift mein Herz. Eben noch in der Vertrautheit der frühen August-Stunde verweilend, schon werde ich von der Gewalt des Unbekannten überrumpelt. Denn alles schreit hier. Der Augen müde Einsamkeit wird von vielerlei Buchstaben überrungen. Die Wände sprechen hier, und alles was sie sagen, erfüllet mich mit seltsamen Gefühlen. So beispielsweise, eine weiße Wand, man würde aber nicht zu dieser Wand „tabula rasa“ sagen. Erstens, weil zu einer Wand etwas zu sagen, unvernünftig ist. Zweitens, weil diese Wand keine tabula rasa ist, sondern… ja was ist es denn? Die Wand spricht zu mir, und sie sagt: „Armut macht wütend“. Wessen Armut? Wen macht sie wütend? Mich? Oder eher die Wand. Meine Armut macht diese Wand wütend? Warum bin ich denn arm? Ich habe ein schönes Haus, ich habe Frau und zwei putzige Kinder… gehabt… Ja wo sind sie denn nun? Wo finde ich deren Gebeine? Denn 100 Jahre sind schon hin, und sie sind alle auch hin, und ich bin hier und kann nicht weg. So bin ich arm. Nein, ich bin reich. Denn ich weiß, daß diese Wand es nicht kennt, daß sie nichts weiß, daß sie nicht weiß, was eine Familie ist, daß sie nichts weiß, daß sie weiß ist.

Und ich bin reich. In alle Ewigkeiten! Denn ich lebe.
Bild 22

Careca
Dieser Satz. Ganz allein. In rot. Blutrot. Nicht schwarz auf weiß, sondern rot auf weiß. Warum wird sowas ausgesprochen? Das ist doch unanständig. Freilich ist Armut nicht schön. das behauptet auch niemand. Aber es muss doch nicht alles ausgesprochen werden, was aussprechbar ist. Die Armen müssen doch nicht erst auf die Idee gebracht werden, daß Armut wütend machen könne. Als ob wir nicht eh schon genügend Probleme hätten. Rote Schrift. Ob dahinter diese Marx-Engels-Gruppe steckt? Mit ihrem permanenten Revolutionsgeschwafel und der Diktatur der Genossen. Aus der Gosse zum Licht der Sonne. Das ich nicht lache. Arbeit schändet doch nicht.

Armut macht wütend.
Hm.

Mich macht dieses Plakat wütend. Wegen eben solch armen Sprücheklopferei. Was ist mit den Leuten in diesem Jahr los? Haben die keinen Anstand? Zumindest schaut keiner hin, während die dran vorbei gehen. Ich würd’ es runterreißen. Aber die lassen es hängen. Unbeachtet. Gleichgültig.

Vielleicht leben die Leute jetzt alle gelassener. Darum schaut wohl keiner mehr hin. Oder der Spruch ist nur ironisch gemeint. Oder als Merkspruch für die Leute hier. Statt „Reichtum macht freundlich“ einfach ein „Armut macht wütend“, damit die Leute motiviert werden, reicher zu werden. Damit diese Stadt hier freundlicher statt wütender wird. Eine freundliche reiche Stadt. Die Leute, die am Plakat vorbei gehen, sehen nicht alle freundlich aus. Irgendwie zwischen freundlich und wütend. Irgendwie gleichgültig. Irgendwie lethargisch.

Vielleicht ist es das, was es bewirken soll. Die Stadt hier freundlicher zu machen und die Menschen aus ihrer Lethargie zu reißen. Wer mehr Geld hat, ist freundlicher. Ja, ich denke, das wird wohl der Zweck dieses Plakates sein. Dann hat das auch nichts mehr mit „Anstand“ zu tun. Es ist das Jahr 2008 und die Stadt will seine Bürger motivieren reicher zu werden, damit alles hier freundlicher wird.

Geschickt dieser Merkspruch. Raffiniert. Ja, ich muss jetzt frank und frei anmerken, ich finde ihn gut. Leute, Armut macht wütend. Also, Leute, strengt euch an und werdet reicher! Nicht schlecht, diese Idee mit dem Plakat.
Gefällt mir.

Theobrominas-Freudin-T

Theobrominas Freundin T
Diese Stadt ist ein Mysterium. Es scheint andere Gesetze als in der Vergangenheit zu geben. Alle Menschen bewegen sich nur in eine Richtung, nach links. Nur wenige Personen richten sich nach rechts. Sind es Rebellen? Leiden sie Qualen, wenn sie in die andere Richtung sehen? Sie beugen sich oder scheinen Schmerzen in den Händen zu haben, selten wirken sie dabei entspannt. Dies scheint nur den Kindern vorbehalten zu sein. Ist es in dieser Zeit verboten, die Königin zu beachten? Sie sitzt auf ihrem modernen geräderten Thron mit großen dunklen Augen, wie eine Fliege und Niemand schaut sie an oder kniet vor ihr nieder. Es scheint eine Zeit der Nichtbeachtung zu sein.

Auch Napoleon steht dort unbeachtet. Haben sie eine Technik erfunden, die ihn konserviert oder wieder belebt hat? Er wirkt lebendig, aus Wachs ist er nicht. Die Wissenschaft muss sehr fortschrittlich sein oder hat der Satz im Schaufenster zu bedeuten? Ist die Eiszeit nur sinnbildlich gedacht? Es scheint so, als sei damit die Kälte der Menschen gemeint. Lediglich der Besuch einer Kirche befreit sie und lässt Berührungen zu.Ich sehe schwarz für diese Gesellschaft oder ist es nur der Hut, der mir über die Augen gerutscht ist?

Bild 14

Sonogara
Der Hut auf meinem Haupt ist nun grün mit lila Band. Er ist jedoch etwas zu weit bemessen und rutscht mir ab und zu auf die Nase, so daß ich nicht mehr in der Lage bin auf eben jenen starren Mann zu blicken, was mir hoffentlich verziehen wird. Andererseits ist es ja so, daß ich einen schwarzen Hut vor mir sehe, wodurch nicht ganz auszuschließen ist, daß mich von Zeit zu Zeit anscheinend unbegründeter Pessimismus ergreift.

Denn dieses 2008 ist eine höchst seltsame Zeit. Wann, seit LaMettrie selig, mögen sich Menschen gewünscht haben, einem Automaten zu ähneln? Wann hätte die Maschinenähnlichkeit dem Menschen je zu Einkünften verholfen? Und hier sehe ich diese Chimäre aus Blut und Bleiche, vor sich die spärlich gefüllte Bettlerschale, gewandet in ein gespenstisches Gespinst farbloser Nostalgie. Fast bin ich mir sicher, daß sich die Zeiten vermischen, die Dimensionen, daß dieses Wesen aus dem Totenreich heraufgestiegen ist und nun keinen Weg zurück mehr findet. Ein Halbhumanoide verlorensten Blickes und trübseligsten Ausblicks. Wie verwunderlich steht er doch im Kontrast zu der händlerischen Geschäftigkeit des Gebrauchtwarentrödlers, der mißmutigen Alltagsmiene seiner Raumgenossen (von Zeitgenossen wage ich, tief verunsichert, nicht mehr zu schreiben – wer weiß aus welchen Zusammenhängen dies Fetzchen Zeitung an mir vorüberwehte?), die ich aus den industriell gewucherten Slums von Berlin nur allzu gut kenne! Nicht weist mehr die Laterne den Pfad in dunkler Nacht. Die Welt zieht um. Die Welt ist ein Umzug der Befindlichkeiten. Was spielt es noch für eine Rolle, auf welchem Pflaster wir uns bewegen? Ich reiche dem Genossen die Hand, die er drucklos in der seinen ruhen läßt, ein Irrgänger in Zeit und Raum, verloren wie ich, gestrandet an diesen letzten Dünen. Ach, unter dem Pflaster, da mag sich ein Strand verbergen. Ein Strand an dem wir zusammenfinden: die letzten Menschen, die letzten Maschinen, die letzten Chimären.

Traeumer – live aus Petersburg, jetzt eine einsame Insel im kalten Nordatlantik
Die Ostsee hat sich in den großen Sibirischen Krater ergossen. Eisberge treiben unaufhörlich Richtung Osten. Das Klima ist eisig. Die Präsidenten Theodore Roosevelt, Georg W.Bush, Hu Jintao, Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, die Kaiser: Wilhelm II. und Guangxu, die Kanzlerin Angela Merkel und Zar Nikolaus II. trafen sich heute, um die neue Weltlage zu besprechen.

Merkel bestand auf Anerkennung des Grundsatzes ‚Das Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie ist eine der Voraussetzungen für die Stabilität unseres Universums, und somit auch für das Leben auf der Erde.’ Wohingegen Dmitri Anatoljewitsch Medwedew darauf bestand, daß das Gleichgewicht der Kräfte auch in der gegenwärtigen Ausnahmesituation gewährleistet werden müßte. Georg W. Bush empfahl dringend zu prüfen, ob Einwirkungen der Antimaterie nicht durch ausreichenden Whiskykonsum neutralisiert werden könnte.

Da inzwischen sich sowohl das Schloß wie das Grandhotel Richtung Osten in Bewegung gesetzt hat wurde die Bevölkerung aufgerufen Schlafmöglichkeiten für die hohen Staatsgäste herbeizuschaffen. Erste Markhändler haben schon die Chance erkannt aus der Katastrophe Geld zu machen. Sie bieten Behälter an, in dem sich zwei Magnetfelder überschneiden, um damit die energiereiche Antimaterie einzufangen und in einen schwebeähnlichen Zustand zu versetzen. Laut Schröder will die Gasprom mit dieser Technik den Energiebedarf des 3. Jahrtausend sichern. Da bei direktem Kontakt mit der Antimaterie große Temperatur Veränderungen zu erwarten sind empfiehlt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt dringend, sich fettreich zu ernähren um sich ordentliche Fettpolster als Isolatoren anzufuttern.

Präsident Hu Jintao aus China vertrat die Ansicht, daß man ähnlich wie bei Maos langem Marsch die Strapazen und Entbehrungen in Kauf nehmen müßte, um die Menschen aus dem vorigen Jahrhundert an ihren angestammten Platz in ihre Welt zurückzubringen.

Die Staatschefs konnten sich am heutigen Tag nicht auf ein Vorgehen einigen. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich gegenseitig wünschen, daß der jeweils andere im sibirischem Krater verschwände.

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