Von Bildern hören

Zufallscollage

Die Ausstellung haben wir nicht gesehen. Wir klingelten vergeblich an der Tür des Patrizierhauses, in dessen Erdgeschoss sich die Galerie befindet, standen noch eine Weile am Fuß der Außentreppe und wollten nicht wahrhaben, dass niemand aufmacht, obwohl wir zur angegebenen Öffnungszeit gekommen waren. Was es dort zu sehen gegeben hätte, weiß ich nicht genau. Ich hatte einfach dem Urteil meines Freundes Rudolph vertraut, als er anrief, um sich mit mir zu verabreden. Wir gingen zu einem Cafe in der Pontstraße und setzten uns draußen unter einen soliden Vorbau auf einem Holzpodest.

Rudolph war erst kürzlich in Freiburg gewesen, um sich eine Ausstellung mit Zeichnungen und Collagen von Karl Bohrmann anzusehen. „Ein guter Mann“, sagte Rudolph, „ein guter Mann! – Nur kennt den kaum einer.“ Jedenfalls habe er den weiten Weg nach Freiburg nicht bereut, denn Bohrmanns Bilder hätten ihn stark angesprochen, als wäre da eine geistige Verwandtschaft. Besonders die kräftigen, farbigen Collagen hatten ihn angeregt, weshalb er nun eine ganz neue Sicht auf seine eigenen Collagen habe. Vor Jahresfrist hatte er mir gestanden, dass er Collagen nur anfertigt in Phasen, in denen er nicht zeichnen kann. Davon wollte er aber jetzt nichts mehr wissen. „Eigentlich hat es was mit dem Radfahren zu tun“, sagte er. Anders als beim Autofahren habe man Zeit die Randstreifen anzuschauen, „wo ja so unglaublich viel Zeug liegt.“ So komme er von jeder Radtour mit einem Päckchen Collagematerial nach Hause, das hinten auf dem Gepäckständer klemmt. Besonders hätten es ihm die Sachen angetan, die sich schon im Stadium der Verrottung befinden.

Der Himmel zog sich zu, die Hausdächer tauchten in graue Schleier, und dann ging ein heftiger Regen nieder. Wir bestellten noch was zu trinken und ließen es regnen. „Collagieren ist dem abstrakten Malen und Zeichnen ähnlich“, fuhr Rudolph fort, denn man abstrahiere in allen Fällen die Bedeutung und konzentriere sich nur noch auf den Eigenwert von Material und Fläche. „Ja“, sagte ich, der Abstraktionsprozess ähnelt dem deiner Zeichnungen, was man an den Serien ablesen kann, die du von einem Motiv zeichnest, beim Turm von Pisa zum Beispiel. „Der Turm von Pisa ist mir eigentlich nicht schief genug“, sagte Rudolph. Immer wenn er da gewesen sei, habe er daher eine bestimmte Stelle aufgesucht, um den Turm von dort her zu zeichnen, weshalb er allerdings jeweils mausklein geraten sei.

In Wahrheit geht es ihm nämlich gar nicht um den Turm von Pisa, sondern um Linien-Kompositionen auf seinem Blatt. So zeichnet er Serien desselben Motivs, wobei er es Blatt für Blatt stärker abstrahiert, bis auf dem letzten Blatt der Serie nur noch wenige Linien zu sehen sind, denen die Komposition einen Eigenwert verliehen hat. Die erste Zeichnung ist also noch figürlich, die letzte ist abstrakt. „Meistens jedoch“, sagte er, „brauche ich zwei Tage, um das zu können, besonders wenn das Motiv zu schön anzusehen oder zu spektakulär ist. Denn es schieben sich ja immer die Bedeutungen dazwischen.“ Er tippte auf seine Stirn und sagte: „Da vorne! Da muss man irgendwie vorbei. Da muss eine Klappe fallen, damit das Denken drum herum nach hinten kann.“

Das logische Denken auszuschalten, um nur noch bildhaft zu sehen, ist eine schwierige Angelegenheit. Wer das nicht kann oder nicht trainiert, wird bei der Kunstbetrachtung immer Hilfen benötigen. Daher laufen auch in Museen so viele Kulturbeflissene mit Ohrhörern durch die Säle. Das ist eine grobe Unterschätzung der Anschauung. Die Museumsinsel Hombroich verfolgt ein anderes Ausstellungskonzept. Dort erhält der Besucher keinerlei Angaben zu den Exponaten. Er ist allein auf das Betrachten angewiesen. Als ich einmal dort war und einen Raum mit Collagen und Assemblagen von Kurt Schwitters fand, erzählte ich meinen Begleitern ein wenig über Schwitters. Im Nu umringte uns eine Menschentraube von Leuten, die lieber hören als schauen wollten.

Von Leonardo da Vinci weiß man, dass er sich regelmäßig Aufgaben stellte, was zu betrachten und zeichnen wäre. Ein solches Training ist notwendig, denn es lässt sich viel aus der genauen Betrachtung lernen, wie seine zahlreichen Skizzen, Notizen, Erfindungen und erst recht seine Gemälde beweisen. Es genügt eben nicht, Talent zu haben und Schaffensdrang zu besitzen. Das können viel von sich sagen, doch nur wenig bringen es in ihrem Metier zur Meisterschaft.

Der Text ist leider jetzt schon zu lang. Allerdings würde ich gern zu einem neuen literarischen Experiment anregen, bei dem es auch um das genaue Betrachten geht und um den Abstraktionsprozess der Verschriftlichung. Mehr dazu morgen.

Reisende-gesucht

Dieser Beitrag wurde unter Teppichhaus Intern abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

0 Kommentare zu Von Bildern hören

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.