Abendbummel online – Vom Glück, nichts zu müssen

PontstraßeDieses Glück war mir heute ab dem frühen Nachmittag beschieden. Ich saß vor dem Egmont an der Aachener Pontstraße, wohin ich gegangen war, um einen Milchkaffee zu lesen und die Süddeutsche zu … lesen. (Sorry, der Milchkaffee hat sich das falsche Prädikat angeeignet.) Über der Süddeutschen jedoch grübelt der Mann am Nebentisch.

Wenn ich hoch schaue, sehe ich gegenüber im Fenster des T-Mobile-Ladens ein Spiegelbild, und mehrmals denke ich: „Oh, das bin ich!“, und erschrecke, dass mein Spiegelbild den Arm nicht hebt, wenn ich die Tasse zum Mund führe. Doch da ich zuverlässig weiß, dass nicht ich, sondern er in die Süddeutsche guckt, sinke ich erleichtert in den Korbsessel zurück, und danke Gott, dass mein eigenes Bild mir nicht die Gefolgschaft verweigert wie ein junger Hund.

Er sieht mir
auch gar nicht ähnlich, ist dicker und jünger als ich, trägt in der Mitte Shorts und unten Sandalen, und oben rum hat er ein T-Shirt an mit der Aufschrift: „JÜRGEN LINDEN AACHEN“. Auf dem Ärmel das Porträt des lachenden Jürgen Linden, eine Tontrennung in blau-weiß-rot. Das ist der eindeutige Beweis, denn niemals käme ich auf die Idee, bei 29 Grad im Schatten den Grinsekopf des Aachener Oberbürgermeisters umher zu tragen. Trotzdem unterliege ich noch mehrmals der identitätsverwirrenden Wahrnehmungstäuschung, und zwar bis der T-Mobile-Ladenbetreiber die Fensterfront zur Seite faltet. Danach begibt er sich wieder hinter die Theke, stützt das Kinn mal in diese, mal in jene Hand und wartet vergeblich auf Kunden. Sie haben sich vermutlich schon alle leer gequatscht und benötigen seine Dienste nicht mehr.

Ein kräftiger junger
Mann schiebt vorbei. Er trägt einen 50 mal 70 Zentimeter großen Bilderrahmen, der seine ganze Armlänge erfordert. Hinterm Glas lacht eine Blondine. In der anderen Hand trägt er eine Kaufhof-Galeria-Tüte. Vielleicht hat er Geburtstagsgeschenke gekauft und lässt die Blondine unter Glas, damit der Beschenkte keinen leeren Rahmen bekommt. Ich habe einmal gelesen, dass in vielen deutschen Haushalten Bildrahmen stehen oder hängen, die gar nicht mit eigenen Bildern bestückt sind, sondern die mitgelieferten Drucke zeigen, auf denen die Personen am Lachzwang leiden. Das ist irgendwie nachvollziehbar, denn die meisten Familienbilder sind kaum so hübsch, dass man sie jeden Tag anschauen möchte. Natürlich ließe sich einwenden, dass die Besitzer von Bilderrahmendrucken schon lange den Plan gefasst haben, eigene Fotos zu rahmen und aufzuhängen, bald, wenn sie Zeit haben. Derweil zaudern sie, weil sie nicht wüssten, wohin mit den ausgerahmten Drucken. Wer schmeißt schon gern eine lachende Blondine in die Tonne.

Die Blondine, die vom
Markt herunter kommt, lächelt nicht einmal, denn sie muss einen Karton mit der Aufschrift „Deutsche Markenbutter“ tragen, worin aber gar keine Deutsche Markenbutter steckt, sondern ihr Einkauf, herausragend: die Chipstüte. Ein Klackern auf dem Pflaster, der T-Mobile-Kleinstunternehmer guckt erwartungsfroh hoch, es naht eine Brünette. Sie schaut gleichsam verlockend wie abweisend, was mir eine höhere Kunst der Täuschung scheint als eine falsche Aufschrift. Sie ist jedoch so freundlich, eine Interpretation mitzuliefern, freilich nur von hinten. Auf ihrer schwarzen Tuchhose prangt in weißen Blockbuchstaben die Aufschrift: MISS SEXY, quer über ihren schwingenden Hintern.

Man kann sich manchmal kaum zurechtfinden zwischen erkannten oder unerkannten Wahrnehmungstäuschungen, falschen oder widersprüchlichen Aufschriften und diffizilen Botschaften. An Tagen, wenn man nichts muss, soll’s recht sein.

Guten Abend

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