Kleine Geschichten (4) – Knecht und Herr

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Für einen Moment fliegt mich der Zauber an, den ich als Kind empfand, wenn ich ein Buch aus der Borromäusbücherei unseres Dorfes ausgeliehen hatte und von fremden Lebenswirklichkeiten las. Und nun stehen sie alle dort, die Bücher meiner Kindheit, und ihre Rückenschildchen rufen: „Lies mich!“, als wäre ich ein Zeitreisender. Doch trete ich an eines der Regale, um ein Buch herauszunehmen, dann will es kaum hervor. Auch seine direkten Nachbarn drängen sich mir entgegen, als hätten sich alle Bucheinbandfolien über die Jahrzehnte miteinander verschweißt. Von der nahen Kirche klingt das Abendgeläut herüber. Ich ziehe Hans Dominicks „John Workman wird Millionär“ aus dem Regal, indem ich die anderen zurückhalte, und setze mich damit ans nördliche Fenster, von wo ich den Kirchplatz sehen kann. Wie war ich betört gewesen, wenn der New Yorker Zeitungsjunge John Workman nach getaner Arbeit seinen kläglichen Besitz hervorkramte in der völligen Gewissheit, dass seine armselige Habe der Grundstock für die erste Million sein würde, wenn er nur fleißig daran arbeitete.

Ich klappe das Buch auf. Sein vergilbtes Papier ist brüchig und trägt kleine glitzernde Einschlüsse, deren Herkunft ich mir nicht erklären kann. Die Bücher aus der Nachkriegszeit verfallen rasch. Das Papier enthält Holzschliff, und daher laufen ihn ihm allerhand chemische und biologische Prozesse auf den Zerfall zu. So ist durchaus Leben in dieser stillen Bücherei, die seit 1970 kein Ausleiher mehr betreten hat. Jetzt ist sie ein verschlossenes Universum der Mikroorganismen. Sie haben nichts am Hut mit den Texten, die sie leise verzehren. Vor zuletzt 30 Jahren haben Menschen in diesem Buch gelesen. Eselsohren, Kaffeeflecken und andere Lesespuren sind so zahlreich, als hätte der ganze Ort sich daraus informiert, wie wunderlich es im fernen Amerika zugeht.

Draußen streben einige Dorfbewohner zur abendlichen Andacht. Wenn die Pfarrei auch verwaist ist, Kirche und Pfarrhaus stehen da und vermitteln den Geist von Beständigkeit und innerer Einkehr. Für die Alten ist die Kirche noch immer ein wichtiger Sammlungs- und Versammlungsort. Der Strom der Leute wird dichter. Wenn einige von ihnen in Kindheit oder Jugend die Geschichte vom amerikanischen Traum gelesen haben – sie sind trotzdem in Kirchspiel geblieben, anders als viele Auswandererfamilien der Region Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war auch Hans Dominick in Amerika gewesen und hatte sich offenbar für die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten begeistert.

Die dörfliche Gemeinschaft dagegen ist fest gefügt. Die wichtigste Familie des Dorfes sitzt seit Jahrhunderten auf ihrem Gutshof. Er weist dem Dorf seine Rückfront, und das prächtige Portal aus Feldbrandsteinen zeigt zu den offenen Feldern hin. Der Familie soll die halbe Kölner Hohe Straße gehören. Das sei altes Geld, das ganz tief in die Erde reicht, wird gesagt. Auf dem Gut hat man noch einen Knecht. Er ist ein treuer, arbeitsamer Mann wie seine Väter. Wer nämlich hier Knecht ist, bleibt Knecht. Und so spiegelt das kleine Dorf auf absurd aktuelle Weise den Zustand der Gesellschaft des ganzen Landes. Gut, das habe ich damals nicht gedacht, als ich in der Bücherei am Fenster saß. Es liegt acht Jahre zurück, und um 2000 zeichnete sich noch nicht so drastisch ab, dass die Industriegesellschaften allmählich zu feudalen Strukturen zurückkehren. Gesellschaften von Herren und Knechten bilden sich aus, denen es an wichtigen Eigenschaften mangelt, die der Herr dem Knecht schuldet: Führsorge, Obacht und Respekt.

50 Jahre am gleichen Arbeitsplatz

Dem Landarbeiter Franz-Josef Frohn aus Kirchspiel, Dorfstraße 25, der ein halbes Jahrhundert dem gleichen Arbeitgeber treue Dienste erwiesen hat, wurde das ihm vom Bundespräsidenten verliehene Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht.
Kirchspiel, den 8. September 1964

(Aus der Chronik des Dorfschullehrers)

Das Erzählprojekt „Kleine Geschichten“ wird gelegentlich fortgesetzt. Teil 1

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