Kleine Geschichten (3) – Das Trafohaus widersteht

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„Das Trafohaus steht ja immer noch, Herr Lammen.“
„Ja, die drei von der Gemeinde haben jemerkt, dass sie mit ihren Spitzhacken nicht weiter kommen. Und dann haben sie sich schnell verdrückt. Und heute könnten sie nicht, da machen sie angeblich den Heckenschnitt vom Friedhof in Erkheim. Die haben et Arbeiten nicht erfunden.“
„Warum soll es denn weg? Ist doch schön, ein Zeitdokument.“
„Dat brauchen wir seit 20 Jahren nicht mehr. Die Stromkabel liegen ja unter der Erde. Ich hab immer wieder bei der Gemeinde Bescheid gesagt, dass die dat wegmachen sollen, und jetzt hoffe ich, dass endlich was passiert. Gucken Sie mal hier!“
Lammen ging um die Ecke des viereckigen Ziegelbaus und deutete auf die südliche Wand. Da waren ungelenke Zeichen in die Ziegel geritzt.
„Wissen Sie, was das ist?“
„Sieht aus wie Gaunerzinken.“
„Genau!“, rief Lammen. „Die Landstreicher ritzen die ein. Ich hab immer wieder zu meiner Frau gesagt: ‚Sach ma, wieso klingeln die nur bei uns?’ Da drüben, die Neubauten, glauben Sie nicht, dat die da betteln gehen. Und dann hat mir einer den Gaunerzinken gezeigt. Dat war die Erklärung! Das hier stellt mein Haus dar und bedeutet: Die Leute geben was!“
„Die finden eine andere Stelle für ihre Zinken“, sagte ich und guckte bedauernd hoch zu den Scherben der Porzellankappen, an denen die Stromdrähte befestigt gewesen waren.
„Früher haben die Jugendlichen mit dem Luftgewehr drauf geschossen“, sagte Lammen. „Da stand unser Haus noch nicht hier. Wir haben ja außerhalb vom Ort gebaut.“
Tatsächlich stand Lammens Altersruhesitz allein auf dieser, den östlichen Feldern zugewandten Seite des Dorfes.
„Da nebenan ist auch Bauland“, sagte Lammen und deutete auf die andere Straßenseite. „Aber das gehört dem einbeinigen Hansens Pitter, bei dem Sie gestern waren. Der verkauft das Land nicht. Der sacht: ‚Wat soll ich mit dat Jeld? Dann verbauen die mir die Aussicht!’“

Lammen musste weg. Ein Freund habe angerufen, der wolle düngen, und dem werde er jetzt helfen. Die Felder von Kirchspiel seien noch zu nass, aber der Freund habe seine Felder im Rurtal, da trockne der Boden eher.
„Der Frühling kommt durch die Flusstäler.“
„Ja“, sagte Lammen.

Er war ein herzenskluger Mann. Und so hatte ich ihn auch leicht von meiner Idee überzeugen können, als wir in der guten Stube seines Hofes saß, den jetzt sein Sohn bewirtschaftete. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich ab und zu übers Wochenende in der Dorfschenke einzumieten. Doch die gab es ja nicht mehr. Deshalb fragte ich ihn, ob ich in der Bücherei des alten Pfarrhauses ein Klappbett aufstellen könnte.
„Das geht eventuell“, sagte er. „Ich muss aber vorher mit dem Jörrissen sprechen.“
Gutsbesitzer Jörrissen und Lammen hatten das Sagen im Dorf, wie ich später erfuhr. „Was die Chefs sagen, wird gemacht!“, hieß es.
Bei meinem nächsten Besuch bekam ich den Pfarrhausschlüssel.
„Wir haben uns natürlich vorher über Sie erkundigt!“, sagte Lammen und nannte mir eine Aachener Familie, die ich kannte.

Die-Bücherei
Die Leihbücherei im Erdgeschoss des Pfarrhauses war 1970 geschlossen worden, als auch die einklassige Dorfschule aufgegeben wurde. Man hatte alles belassen, einfach nur die Tür zu gemacht. Nie zuvor hatte ich eine Bibliothek gesehen, die ihren gesamten Bestand beherbergt. Die Regale waren so prall gefüllt, dass man die Bücher kaum herausziehen konnte. In den Karteikästen steckten noch die zerfledderten Ausleihkarten. Wer für eine Weile in die 60er Jahre zurückreisen wollte, musste sich einfach nur hersetzen und lesen.

Ich hatte in der Bücherei einen Tisch, zwei Stühle, ein Klappbett, ein angeschlossenes Telefon mit Wählscheibe und einer dreistelligen Telefonnummer und durfte die große, schwarzweiß geflieste Küche nutzen, deren Fenster in die Wildnis des Pfarrgartens hinauszeigten. Die Küsterin hatte mir auf Lammens Geheiß zwei Dorfchroniken ausgehändigt, die der Lehrer Johannes Schotten bis zu seiner Abberufung verfasst hatte. Die Chroniken waren von Haus zu Haus gereicht worden. „Und stellen Sie sich vor“, sagte Lammen, „da hat der Lehrer doch tatsächlich meine Meisterarbeit mit den Bilanzen von meinem Hof abgeschrieben und in die Chronik aufgenommen! Die konnte das ganze Dorf lesen! Das hätte der doch nicht zu machen brauchen.“

Wenn ich nicht im Dorf unterwegs war, saß ich in der Bücherei, arbeitete aus, was die Leute mir erzählt hatten, oder sammelte Zitate aus den Chroniken.

In Rom und bei den Lappen,
Da späh’n wir jeden Winkel aus,
Derweil wir im Finstern tappen
Daheim im eigenen Vaterhaus.
(Der Chronist im April 1969)

Mir ging’s genauso: Ich wusste, dass die frühen Formen der griechischen Schrift furchenwendig geschrieben worden waren. Boustrophedon, wie der Ochse pflügt, ein endlos sich windendes Band. Die Idee der Zeile kommt erst später auf. Allerdings hatte ich keine Vorstellung vom Pflügen mit Ochsen. Die bekam ich erst, als ich eigentlich auf der Suche nach einem hölzernen Fronleichnamskapellchen war.

Teil 4

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