Kleine Geschichten (1) – Kirchtürme sehen

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„Den Hansen müssen Sie mal besuchen“, sagte Ortsvorsteher Theo Lammen, „der hat viel Zeit, der hat ja nur ein Bein. Ach, wissen sie wat, ich jehe mit Ihnen.“ Lammen, ein rotwangiger Bauer im Ruhestand, hatte schon mehrmals den Türöffner für mich gespielt und begann offenbar Gefallen daran zu finden. Wir gingen über die Straße zum Haus des Einbeinigen und durchquerten den überwucherten Vorgarten. Er klingelte an der Haustür. Eine alte Frau öffnete.

„Juten Morjen, Frau Küttelwäsch!“, sagte Lammen. „Das hier ist der Herr van der Ley. Der will im Dorf Geschichten sammeln. Kann der ens mit ührem Broder kalle?“

Sie wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab und reichte mir die Hand. „Ja, von Ihnen hann ich schon jehürt!“, sagte sie, „dann kommen Sie ens erein!“ Frau Küttelwäsch zog die Tür auf und trat zur Seite.

Der Flur war niedrig und hatte wenig Licht. An den unordentlich angebrachten Wandpanelen hingen diverse Bilderrahmen mit religiösen Motiven, offenbar Mitbringsel aus Kevelaer oder Banneux. Wir durchquerten eine kleine Küche, dann führte uns die Frau nach rechts ins „jute Zimmer“, dessen zwei Fenster zur Straße hinauszeigten. Das gute Zimmer erstreckte sich über die gesamte Frontseite des Hauses und war durch eine faltbare Trennwand aus nikotingelbem Plastik unterteilt.

Hinter der Falttür bot sich ein bizarrer Anblick. Über die gesamte Stirnseite des Raumes erstreckte sich eine eichene Schrankwand. Aus dieser Wand war ein Schrankbett ausgeklappt. Dort saß inmitten seines zerwühlten Bettzeugs ein kleiner alter Mann. Er trug einen braunen Frottee-Schlafanzug. Das rechte Hosenbein war hochgeschoben. Heraus schaute ein schrundiger Beinstumpf, der endete, wo das Knie hätte sein sollen. Ein großer Tisch beim Fenster war mit Medikamentenpackungen bedeckt. Hansen lächelte uns erwartungsfroh an. Er schien nichts dabei zu finden, seinen Beinstumpf zu zeigen.

„Pitter, der Herr will ma mit dir sprechen. Der is us Oche!“, sagte Lammen.
„Ja, dat Sie us Aachen sinn, weeß isch, isch hann jo dat Nummernschild von Ührem Auto jesenn!“

Ich schüttelte dem Einbeinigen die Hand. Sie war warm und klebrig.

„Bitte entschuldigen Sie die Unordnung!“, sagte Frau Küttelwäsch, „mein Bruder erwartet die Gemeindeschwester, damit die sein Bein versorgt. Ich mach Ihnen mal Platz, dann können Sie sich an den Tisch setzen.“ Sie schob mit ihrem Unterarm die Medikamente zu einem Haufen zusammen.
„Nein, machen Sie sich keine Umstände, Frau Küttelwäsch!“, wehrte ich ab, „ich komme schon zurecht.“
„Sie brauchen mich ja sicher nicht mehr“, fragte Lammen.
„Ja, danke schön, Herr Lammen“, sagte ich, „wir sehen uns später.“
„Dann will ich mal denen da draußen auf die Finger gucken!“
„Ja, Herr Lammen, die mösse Se ens in de Fott tredde“, rief der Einbeinige, „dat sin voule Lömmele. Die donn nix!“ Dabei wippte sein Beinstumpf bestätigend auf und ab. Ich schaute aus dem Fenster, schräg hinüber zu den gescholtenen Gemeindearbeitern. Sie waren zu dritt. Als ich eintraf, hatten sie Anstalten gemacht, ein altes Transformatorenhäuschen niederzulegen, das auf der Ecke von Lammens Anwesen stand. Jetzt standen sie wie machtlos vor dem hohen Ziegelbau und rauchten.

„Da haste Reäch, Pitter, isch jonn dann ens!“, sagte Lammen und ging mit Frau Küttelwäsch hinaus. Ich setzte mich zu den Medikamenten an den Tisch und packte meine Karteikarten aus. „Sie haben ja freien Ausblick“, sagte ich und deutete zum Fenster.
„Ja!“, rief der Einbeinige, „isch kann von meinem Bett aus sieben Kirchen sehen!“ Sein Finger wanderte über die Felder hinweg zum Horizont. Ich schaute hinterher. Tatsächlich sah man in der Ferne die Türme mehrerer Kirchen. Er zählte mir stolz die Namen der Pfarreien auf, und ich schrieb sie auf eine Karteikarte. Mehr erfuhr ich nicht von ihm. Denn derweil ich notierte, worin er seinen Trost fand, brachte Frau Küttelwäsch die Gemeindeschwester herein.

Einige Wochen später fand ich auf dem Kirchhof sein Grab. Er war fünf Tage zuvor gestorben. Ich stand eine Weile still, las seine Lebensdaten und sah ihn vor mir, wie er freudig die Kirchen aufgezählt hatte, da, aus seinem Schrankbett heraus. Wie klein seine Welt zuletzt gewesen war. Und doch hatte er Weite darin gefunden. Hatte sich die fernen Kirchen durch sein Fenster ins Schrankbett geholt, sich erinnert, wie er noch kräftig auf zwei Beinen und da und da gewesen war. Und jetzt lag er unter der Erde. Es regnete. Bald würde das Grab einsinken. Die Blumen hingen nass und welk auf den Kränzen. Die Aufschriften der Bandschleifen waren ausgewaschen, und ihre Enden ruhten in lehmigen Pfützen. „Letzter Gruß – Die Nachbarschaft.“ Das klang ungewöhnlich kühl. Später sollte ich den Grund erfahren. Denn je länger ich in der 240-Seelen-Gemeinde unterwegs war, um so mehr begannen sich die Geschichten zu verknüpfen.

Das Erzählprojekt „Kleine Geschichten“ wird gelegentlich fortgesetzt.
=> Teil 2

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