Abendbummel online – Gefällige Eigenschaften

Das Cafe ist dicht besetzt, so dass ich mich an einen Tisch direkt bei der Theke setzen muss, wo mir die Espressomaschine in den Nacken kreischt. Am Tisch nebenan hockt ein weißhaariger, kerniger Mann. Er scheint hier seine Wohnstube zu haben, denn jedes Mal, wenn ich ins Egmont komme, ist er schon da. Offenbar durchforstet er täglich alle vorgehaltenen Zeitungen. Hat er etwas Interessantes gefunden, reißt er dreist den Artikel aus. Wie er sich angespannt über sein nächstes Opfer beugt, die TAZ, hat er etwas Manisches, ja, irgendwie Entrücktes. Zweifellos gehört seine Form des aneignenden Lesens nicht mehr in diese Zeit. Was er wohl mit all den Zeitungsausrissen macht? Ob er sie getreulich archiviert?

cafehausgedanken
Als zwei junge Frauen aufbrechen, setzte ich mich hinüber an ihren Tisch. Sie müssen einige Zeit da gewesen sein, denn der Tisch ist beladen mit gebrauchten Gläsern und Geschirr. Sie haben auch die leere Schachtel einer Vitamin-Creme gegen vorzeitige Faltenbildung dagelassen. Kürzlich habe ich in der Süddeutschen gelesen, was zwei japanische Forscher über Pfaue herausgefunden haben wollen. Es war meine eigene Zeitung, und trotzdem habe ich versäumt, den Artikel auszureißen. Moment, da kommt die Kellnerin und räumt den Tisch ab. Sie ist neu hier, von großer Freundlichkeit und durchaus liebreizend. Allerdings hat sie einen kleinen Schönheitsfehler, einen Höcker auf der Nase. Ach, ja, die Forscher. Sie haben gefunden, dass Pfauenweibchen bei der Partnerwahl nicht unbedingt jene Pfauenmännchen bevorzugen, die das schönste Rad schlagen. Federpracht soll ihnen sogar ziemlich egal sein. Das wirft die Frage auf, warum sich die Natur soviel Mühe mit der Ausgestaltung der Pfauenmännchen macht.

Der Mensch nennt den Pfau eitel, getreu der Erkenntnis, dass Schönheit Eitelkeit im Gepäck hat. Und wie mit einem eitel schönen Menschen selten gut Kirschen essen ist, so könnte auch das Pfauenweibchen ähnliche Vorbehalte gegen zu schöne Pfauen haben und auf andere Qualitäten aus sein. Wozu also das Protzen und Prunken, wozu sind besonders schöne Menschen oder Pfauen gut? Mensch wie Pfau trachten danach zu gefallen. Da ist ein ständiger Wunsch in ihnen, beliebt zu sein. Das ist nicht nur für die Fortpflanzung erforderlich, auch lebt es sich besser in Gesellschaft als außerhalb. Daher ist auch das äußere Erscheinungsbild wichtig. Nur ist eben nicht jeder mit Schönheit gesegnet. Manche entdecken an sich Schönheitsfehler, und aus dieser vermeintlichen Erkenntnis heraus, versuchen sie den Makel auszugleichen und entwickeln andere Qualitäten. Eventuell entwickeln sie sogar innere Schönheit oder verfeinern ihren Charakter, was nachhaltiger und wirkungsvoller ist als pure äußere Schönheit. Und schon zeigt sich auch ein Grund dafür, dass die Natur manche Lebewesen mit großer Schönheit schlägt und für eine Weile plagt: Schöne dienen als Maßstab und sind gleichsam den anderen ein Grund, sich durch andere Qualitäten konkurrenzfähig zu machen. Das wiederum wirft ein schlechtes Licht auf den Drang zur charakterliche Verfeinerung: Er ist nur ein Reflex, ergibt sich quasi automatisch, und kommt er mit irgendeiner Form der Moral daher, so ist die Moral nur Mittel zum Zweck. Sie existiert nur in der Vorstellung und hat keinerlei höheren Wert in der Natur als andere erfolgreiche Überlebensstrategien.

Endlich bringt die liebreizende Kellnerin meinen Milchkaffee. Es hat ziemlich lang gedauert, denn sie hatte zwischendurch die Bestellung vergessen und musste nachfragen. Sie ist vor lauter Liebenswürdigkeit ein bisschen schusselig, was wiederum zeigt, dass eine erfolgreiche Strategie jederzeit aus dem Ruder laufen kann. Störungen privater und gesellschaftlicher Bedingungen, eine latente psychische oder gesellschaftliche Unsicherheit, das verführt zur Übertreibung, und davor ist niemand gefeit.

Die Kosmetikindustrie lebt von der Angst vor dem Verlust äußerer Schönheit. Man kann sich aber Qualifikationen oder charakterliche Verfeinerung nicht ins Gesicht tun. Das kann man sich quasi abschminken oder in die Haare schmieren. Daher ist es wohl besser, Schminke und Schmiere manchmal gegen ein Buch oder eine Zeitung zu tauschen und zum Beispiel interessante Dinge zu lesen, falls der manische Leser drüben am Tisch sie nicht schon rausgerissen hat.

Guten Abend

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