Nordwärts zwischen Pappelreihen (4)

=>=>=> Drei Etappen

Gestern Regen und Sturm, heute windige Kälte. Da tut es mir beinahe Leid, dich über den wilden Strategischen Bahndamm zu schleppen. Du kommst freiwillig mit? Es schrecken dich nicht die brausenden Pappeln und erst gar nicht, dass wir in der Finsternis kaum fünf Meter vorausschauen? Gut, du hast eine Taschenlampe. Hör mal, derweil du bei jedem Käuzchenruf in die Büsche leuchtest, hab ich mir schon das Schienbein an einem heruntergefallenen Ast gebarrt. Würde es dir was ausmachen, den Lichtkegel vor unsere Füße zu halten? Es ist nicht gut, herum zu leuchten. Du scheuchst nächtliches Getier auf mit deiner Funzel. Wer weiß, was da alles über den Bahndamm kreucht und fleucht. Der ist schließlich ein Biotop, eine eigenartige Welt mit Gesetzen, die uns nicht zugänglich sind.

An dieser Stelle des Bahndamms sind wir Nettesheim am nächsten. Jetzt müsstest du eigentlich die Kirchturmuhr sehen können, – wenn du hochhüpfst, kannst du vielleicht über das Strauchwerk gucken. Wie spät es ist? Viel sehe ich auch nicht. Der kleine Zeiger steht irgendwo unten und der große ein Stückchen vor zwölf.

Heute kam ich am Aachener Dom vorbei, wo an die hundert Weihnachtsmarktbesucher den russischen Blechbläsern lauschten. Fünf ärmlich gekleidete Typen in Jeans, Anoraks und mit Mützen auf dem Kopf spielten empfindsame Barockmusik und gaben ihr bestes, bis auf den Chef der Gruppe, der immer wieder sein Waldhorn sinken ließ, vortrat und sich dem CD-Verkauf widmete.

Das menschliche Gehirn ist ein zuverlässiges Speichermedium, findest du nicht? Man hat nicht immer alles im Arbeitsspeicher, doch wenn zum Beispiel ein paar musikalische Russen in der Dämmerung auf dem Domplatz die blechgeblasene Seufzermelodik des Barocks ertönen lassen, dann rauscht es mir ungebremst ins Gemüt und wühlte versunkene Regionen auf. Ich hätte heulen können, als die Bachtrompete meine Erinnerungen nacherzählte und es war mir, als breitete sie nicht nur mein eigenes altes Leid vor mir aus, sondern auch das Elend des Komponisten und das der Russen dazu.

Entschuldige das Wort Arbeitsspeicher. Jedenfalls speichert das menschliche Gehirn die Informationen ein ganzes Menschenleben. Die CD der Russen bewahrt ihre Töne vermutlich weniger lang. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass die Haltbarkeit von Informationsträgern immer mehr abnimmt, je komplexer die Technik ist? Guck, die ältesten Bildinformationen findet man in vorzeitlichen Höhlen, die älteste Literatur des Menschen ist in den Scherben von Tontafeln erhalten. Steinritzungen halten auch lange, doch sie sind der Verwitterung ausgesetzt. Die keltische Ogomschrift zum Beispiel ist auf die Kante von Steinen geritzt, und just an seinen Kanten verwittern die Steine am schnellsten. Pergament ist noch verletzlicher. Es kann abgeschabt und überschrieben oder verbrannt werden. Bücher bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sind haltbarer als die späteren. Denn nach der Erfindung des Holzschliffpapiers wurde die Papierherstellung einfacher, das Papier zerfällt jedoch nach etwa 100 Jahren wegen der Säure, die in ihm arbeitet. Die elektrischen oder elektronischen Speichermeiden des 20. Jahrhunderts sind besonders anfällig. Neue Geräte können die alten Informationsspeicher nicht mehr abspielen, so dass viele Informationen verloren gehen. Und wie unsicher sind erst die digitalen Informationsspeicher des 21. Jahrhunderts. Spätestens wenn der Strom ausfällt, ist alles weg.

Eigentlich ist der menschliche Kopf noch immer das beste Speichermedium, wenn er nur leichter zugänglich wäre. Angenommen, auf dem Strategischen Bahndamm tut sich plötzlich eine Lichtung auf, und in einer leichten Senke stünden fünf Russen in Anoraks und blasen unter ihren Mützen fleißig Barockmusik. Dann würde mich das derart aufwühlen, dann könnte ich dir den ganzen Roman meiner Kindheit und Jugend erzählen.

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Tue ich aber nicht. Hier warten ja zum Glück keine Blechbläser. Man muss auch vergessen können. Wenn man zum Beispiel schöpferisch arbeiten will, darf man sich nicht dauernd mit alten Erinnerungen und Erfahrungen belasten. Dann kann man keine neuen gedanklichen Wege gehen. Eine Romantisierung der Vergangenheit liegt mir sowieso fern. Als Kind fand ich im Liboriusblatt eine Bastelanleitung für eine Sternenhimmel- Beobachtungsstation. Ich hab sie eifrig nachgebaut, doch irgendwie fehlte in der Anleitung das Wichtigste. Wie kriege ich den Sternenhimmel in meine Beobachtungsstation gespiegelt? Ich habe das ganze Liboriusblatt abgesucht, ob sie vielleicht die Seiten vertauscht hätten und die Anleitung noch irgendwo weiter ging. Leider blieb meine Beobachtungsstation unvollendet. Und darüber war ich noch lange Zeit enttäuscht. Wie einfach hingegen kann ein heutiges Kind sich die wunderbarsten Weltraumbilder im Internet angucken.

Du hast Recht. Wenn wir jetzt in den Sternenhimmel schauen, kann uns das Internet gestohlen bleiben. Von unten auf dem Bahndamm aus gesehen ist der Sternenhimmel kein astronomischer Untersuchungsgegenstand, sondern eine unermesslich hohe Halle, in der ferne Lichter funkeln. So einsam und mausklein unterm Himmelszelt packt einen die Ehrfurcht vor den Dimensionen. Man muss nur lange genug hoch schauen.

Am 12. April 1961 wurde der sowjetische Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin als erster Mensch ins Weltall geschossen. Er hat dort oben auch nach dem lieben Gott Ausschau gehalten und später gesagt, er hätt’ ihn nicht gesehen. Seither hoffen ja manche, dass dann wenigstens Außerirdische die Erde umkreisen mögen, ein waches Auge auf alles haben und gegebenenfalls herunter kommen, um die Fehler ausmerzen, die der Mensch begangen hat.

Wir sind jetzt auf der Höhe von Frixheim. In Frixheim hat man keinen Kirchturm, darum können wir das kleine Dorf nicht sehen. Hier weitet sich der strategische Bahndamm. Vielleicht wollte man ein Stellwerk oder eine Blockstelle errichten. Jedenfalls ist der Bahndamm breit genug, dass ein Ufo gut landen könnte.

Ein Brausen in der Luft, sphärisches Sirren und irrwitziges Lichterspiel. Wir halten uns die Ohren und stehen starr vor Staunen. Da holt man uns auch schon über eine Rampe herein, wir „passieren mehrere Walzen und tauchen in Säure. Dann kommen wir mit einigen Leichen in nähere Berührung.“ Nachdem man unsere geistige Struktur untersucht hat, kriegen wir den großen Raddada zu sehen. Der schickt uns wieder in die Welt zurück mit der Weisung: „Malen Sie Flamingos!“

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Du wunderst dich? Ja, wissen wir denn, welche Wertvorstellungen Außerirdische haben? Dem Maler Sigmar Polke ist es jedenfalls so ergangen. Zuerst haben ihm höhere Wesen befohlen, bei einem Bild die obere Ecke rechts schwarz zu malen, dann haben sie ihm gesagt: Malen Sie Flamingos! Vielleicht finden die fürsorglichen Außerirdischen es am besten, wenn die Menschen den ganzen Tag Flamingos malen. Dann würden der Welt die anderen Untaten erspart bleiben.

Wird fortgesetzt

Morgen: Flamingo-Tag im Teppichhaus!

Zeichnen, malen, fotografieren, sticken Sie Flamingos, finden Sie Fotos im Internet (Vorsicht: Urheberrecht, darum obere rechte Ecke schwarz malen, dann ist das Bild ein Kunstwerk).

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