Professor Dr. phil, Dr. ing. Jeremias Coster
Einen Teil seiner Lebenszeit verbringt man mit Suchen, meine Damen und Herren. Auch ich habe schon oft etwas verlegt. Es hat etwas mit der Fülle der Dinge zu tun, die einen umgeben. Besonders aufdringlich sind die flachen Dinge. Der postmoderne Mensch ist umgeben von einem imaginären Wust von Papieren. Würde sich jeder seine papierene Welt an die Jacke heften, würden alle wie fette, aufgeplusterte Hühner herumlaufen.
Auch kleinere Objekte jeder Art habe ich schon in der Hand gehabt, weggelegt und auf lange Zeit nicht wieder gefunden. Dabei ist die Anzahl der Möbelstücke in meiner Wohnung durchaus überschaubar. Manchmal glaube ich, dass sich Dinge vor mir verbergen. Irgendwann nach ihrem eigenen Gutdünken tauchen sie wieder auf, entlocken mir ein Ach-da-bist-du-ja! und geben meinem Leben einen unerwarteten Drall. Wie oft habe ich das Haus nicht verlassen können, weil ich meinen Schlüssel nicht fand. Wer weiß, was zum Beispiel gestern mit mir passiert wäre, wenn mein Schlüsselbund mich nicht zehnmal hätte hin- und herlaufen lassen, bevor es sich bequemte, Kuckuck zu rufen.
Entschuldigung, das ist Quatsch. Wir reden von verlegten Dingen. Es gibt sie auch in digitaler Form, als E-Mails mit Telefonnummern oder Passwort-Benachrichtigungen, die man vergessen hat aufzuschreiben; Bilder, Dokumente, die sich unauffindbar in Unterordnern von Unterordnern verstecken. Hier muss man zum Glück nicht mehr den Hl. Antonius anrufen, den Schutzpatron derer, die etwas verloren haben. Der digitale Schutzpatron ist entpersonalisiert, ein Befehlsverb, und heißt schlicht: suche.
Bald wird es diese Suchfunktion auch für Dinge geben. Einige von uns werden eine Dingwelt erleben, die sich mit einer Suchfunktion durchstöbern lässt. Schon heute haben moderne Produkte einen RFID-Chip. Er sitzt in Etiketten von Kleidungsstücken, unter Parfum- und Rasierwasserflaschen, Haustiere tragen ihn unter der Haut. RFID-Chips dienten ursprünglich der Warenverfolgung im Handel, und ich sage jetzt einmal voraus, dass sie bald in so vielen Dingen verborgen sind, dass man sie über den privaten Computer suchen und auffinden kann. Du gibst in die Suchmaske: Schnubbel ein, und schon sagt dir der Rechner, wo der Schnubbel liegt. Da braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen, wo man z.B. die ungeöffneten Briefe der G.E.Z. hingelegt hat. Sie rufen plötzlich aus mehreren Schubladen, hier bin ich!
Die Sache wird kein Segen sein, werte Damen und Herren. Denn der von der Erinnerung an sein Weglegen entlastete Mensch verliert eine weitere Notwendigkeit zu denken. Ja, Denken wird überhaupt bald gänzlich aus der Mode kommen. Wozu ist es eigentlich gut? Wir werden die Maschinen zunehmend für uns denken lassen. Dieser Prozess hat längst begonnen.
Was tritt an die Stelle des Denkens? Das Denken wird ersetzt durch Verzweifeln. Wir sitzen verzweifelt vor dem Rechner, weil ein Programm nicht funktioniert, verzweifelt versuchen wir die Hot-Line einer Telefongesellschaft zu erreichen, verzweifelt warten wir auf einen Techniker und gänzlich verzweifelt schauen wir auf die Anzeigentafel, wenn ein Zug mit 50 Minuten Verspätung angegeben wird. Das GPS-System im Auto versagt. Was geschieht? Der Fahrer verzweifelt. Und mühsam ächzend greift er nach der Karte, die so unhandlich aufzuschlagen ist, wo ein Weg mit den Augen herausgepiddelt werden muss, ach, man kann es schon gar nicht mehr, das ist ja wie zu Fuß gehen auf der Autobahn.
Mit den Generationen wird sich die Dauerverzweiflung in den Physiognomien niederschlagen. Die Augen rücken zusammen und die Augenbrauen hängen es tritt auf: der DAM, das ist: der Dämlichste Anzunehmende Mensch, dem es noch nicht einmal vergönnt ist, einen Schnubbel zu verlegen. Er hat jederzeit alles an der Backe. Denn in ihrer höchsten Perfektion werden die Dinge den entmündigten Menschen herbeizitieren und ihn zu Handhabungen und Aktionen auffordern, weil es gut für ihn ist.
Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
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