Frau Nettesheim empfiehlt Anachronismus

trithemius & Frau NettesheimTrithemius
Ich beobachte beunruhigende Entwicklungen bei mir, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Das geht mir schon lange so.

Trithemius
Gut, zuerst erzähle ich Ihnen meine Beunruhigung, dann höre ich mir Ihre an.

Frau Nettesheim
Sie haben mich bewusst falsch verstanden, Trithemius.

Trithemius
Dann kann ich ja in Ruhe über mich reden. Also, am Montag wollte ich über die Bedeutung von Dienstag schreiben, dass der Tag nach dem germanischen Kriegsgott Tyr benannt ist und so. Da musste ich mich rückversichern, was die Geschichte mit dem Fenriswolf und Tyrs abgebissener Hand betrifft, und nachdem ich bei Wikipedia nur unzureichende Angaben fand, bin ich doch tatsächlich zum Bücherregal gegangen und habe Bellingers „Lexikon der Mythologie“ herausgezogen. Und was soll ich Ihnen sagen, Frau Nettesheim, es kam mir plötzlich ganz anachronistisch vor, ein schweres Buch zu halten, seine Seiten zwischen den Fingern zu spüren, sie umzuwenden und den Geruch des Papiers in der Nase zu haben. Viele meiner Bücher erkenne ich am Geruch, denn je nach Konsistenz von Papier, Druckerschwärze, Leimung und Alterungszustand riechen sie völlig unterschiedlich. Und wie wunderbar klingt es, ein schweres Buch zuzuklappen.

Frau Nettesheim
Ja, das kann ich nachvollziehen. Und was genau beunruhigt Sie?

Trithemius
Vor fünfzehn Jahren noch war das Lesen in Büchern mein Alltag. Ich war ständiger Gast in den drei großen Aachener Bibliotheken und war glücklich, wenn ich ein seltenes Werk zu meinen Themen fand. Auch die Organisation der Bibliotheken hat mich fasziniert. Den Zugang zur umfangreichen Diozösan-Bibliothek musst ich mir sogar ein bisschen ergaunern, denn man verlangte von mir eine Empfehlung, und da gab ich frech einen Freund an, der in kirchlichen Kreisen bekannt ist. Darauf wurde ich vom Leiter der Bibliothek in die Benutzung eingeführt, das war, als hätte er mir den Schlüssel zu einem geistigen Paradies ausgehändigt.

Frau Nettesheim
Und dann sind Sie wegen einer Frau aus der Gemeinschaft der denkenden Männer ausgetreten.

Trithemius
Bitte, Frau Nettesheim, was sollen denn die Kunden von mir denken. Ich bin doch längst wieder Mitglied in dem Verein. Doch ich lese nicht mehr oft in Büchern, und ich gehe nur noch selten in eine Bibliothek. Das Internet suggeriert einen bequemeren Zugriff auf Informationen und vermittelt den trügerischen Eindruck der Vollständigkeit.

Frau Nettesheim
Und es lässt die haptische Qualität von Büchern in Vergessenheit geraten. Das geht vermutlich nicht nur Ihnen so. Allerdings zwingt Sie ja niemand, ständig am Rechner zu sitzen. Nehmen Sie einfach öfter ein Buch in die Hand.

Trithemius
Sie haben gut reden, Frau Nettesheim, beziehungsweise Sie haben gar nichts mehr zu reden, wenn ich wieder in Buchwelten eintauche. Was denken Sie, wer dann so treulich Ihre Bemerkungen über mich aufschreibt und sie ins Teppichhaus einstellt?

Frau Nettesheim
Wenn mir soviel daran liegen würde, wie Sie glauben, hätte ich längst einen eigenen Internetzugang. Es reicht, wenn Sie der Sogwirkung erliegen und sich der Verflachung der Eindrücke aussetzen.

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19 Kommentare zu Frau Nettesheim empfiehlt Anachronismus

  1. Pingback: Schreiben wie im Mittelalter – Wir kopieren ein Kapitel aus dem Philobiblon

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