Frau Nettesheim empfiehlt Klausur

trithemius & Frau Nettesheim
Trithemius
Wissen Sie, was bei mir zuverlässig eine Schreibhemmung auslöst, Frau Nettesheim?

Frau Nettesheim

Ach, darum gab es weder Sonntag noch Montag einen neuen Text. Woran hat es gelegen?

Trithemius
Bildwelten. Wenn man zu viele bildhafte Eindrücke hat, bildet man keine Begriffe, sondern ist nur noch Auge. Am Sonntag habe ich eine Radtour gemacht. Das Wechselspiel des Lichts war ziemlich spektakulär. Bei den Sieben Quellen bog der Wind die Pappeln, so dass die Unterseiten der Blätter silbrig aufleuchteten. Dann lag der Lousberg plötzlich im Dunst, während die Landschaft ringsum im hellen Licht erstrahlte. Ich ließ mich von einer ausgeschilderten Fahrradroute leiten, die witziger Weise „Aachener Fahrradsommer“ heißt, und für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass ich den Sommer noch finde, wenn ich nur den Schildern folge.

Frau Nettesheim

Sie sind ein hoffnungsfroher Romantiker, Trithemius.

Trithemius
Danke, Frau Nettesheim, dass Sie nicht „hoffnungsloser Romantiker“ gesagt haben, denn das wäre ein Widerspruch in sich. Darf ich jetzt vielleicht weiter erzählen?

Frau Nettesheim

Sie werden es so oder so tun, also ergebe ich mich.

Trithemius
Die Schilder führten mich zur Flanke des Lousbergs hinauf. Hier fahre ich sonst nur in Gegenrichtung, denn der Anstieg ist ziemlich steil. Dachte ich, doch er lässt sich ganz gut fahren. Jedenfalls sah ich für eine Weile meine Welt von der anderen Seite an, und so war mir selbst der Lousberg wie neu. Später rollte ich über die belebte Pontstraße Richtung Markt und saß auf einen Milchkaffee im Egmont. Doch ich kam nicht zur Ruhe, denn unablässig strömten vor der offenen Front die Besucher des nahen Handwerkermarkts hin und her. Also bummelte ich ebenfalls durch die Budengassen und guckte mir quasi die Augen aus dem Kopf. Auf dem Münsterplatz war kaum ein Durchkommen, und als ich mich gerade entschlossen hatte, nach Hause zu fahren, da entdeckte ich Menschen oben im Turm des Doms. Man konnte ihn am Sonntag besteigen.

Sie wissen doch, dass ich schon einmal ganz oben auf dem Dach war, Frau Nettesheim, zusammen mit einem Fotografen der FAZ. Damals war das Dach eingerüstet, und der Fotograf stieg ganz hinauf. Da dachte ich, was der kann, kann ich auch, und stieg hinterher. Es ist wirklich beeindruckend, von so hoch auf die Stadt hernieder zu gucken. Diesmal durfte man nur bis in die Heiligtumskapellen im Turm, und von dort konnte ich auf das bunte Treiben in den Budengassen sehen, die Dachgärten der Häuser des Münsterplatzes, die Hügel ringsum, auf denen im Mittelalter die frommen Pilger lagerten, in der Hoffnung, einen winzigen Blick auf die Heiligtümer zu erhaschen, wenn sie in alle vier Himmelsrichtungen gehalten wurden – und um mich herum ein Gewusel von Gucklustigen – ich sage Ihnen, Frau Nettesheim, so viele Bilder passen eigentlich gar nicht in meinen Kopf, das war, als müsste ich mir 5000 Dias im Schnelldurchlauf angucken … und deshalb konnte ich gar nicht denken, selbst gestern noch nicht.

Frau Nettesheim

Wenn Sie so leicht abzulenken sind, dann müssen Sie zum Schreiben in Klausur gehen.

Trithemius
Nein, das ist nicht nötig. Man muss die Phasen des Schauens einfach hinnehmen. Und danach hilft ein Trick, den ich gestern auch angewandt habe, indem ich einem Bild einen imaginären Text aufzwinge. Dann gewinnt das Denken wieder die Oberhand, taucht auf aus der Bilderflut und meistert sie.

Frau Nettesheim

Wenn Sie sich nicht erneut von Bildern einfangen lassen. Die optischen Reize lauern überall.

Trithemius
Ja, Frau Nettesheim, ich brauche nur Sie richtig anzuschauen, wie Ihr Haar im wechselnden Licht des hellen Tages mal seidig glänzt, mal golden erstrahlt, und schon ist’s aus mit dem klaren Denken.

Frau Nettesheim

Apropos Haare. Wollten Sie nicht zum Friseur?

Herrentag mit DamenTrithemius
Danke, dass Sie mich daran erinnern, Dienstag ist ja Herrentag.

Frau Nettesheim

Sie werden sich doch nicht von diesem albernen Schild verlocken lassen.

Trithemius
Nein, ich gehe zu meinem schwulen Friseur, Frauen machen einen zu brav.

Frau Nettesheim

Und Sie wollen lieber ein Wirrkopf bleiben.

Trithemius
Genau, Frau Nettesheim.

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