Von Hollands höchstem Berg in die Tiefsee (5)

Kommunikationstörung

Fünf Etappen =>=>=>=>=>

Just wo der Palisadenzaun des Nudistencamps beginnt, zweigt ein Weg nach rechts ab durch den Wald. Dort ballt sich eine Menschengruppe, als wären ihre Mitglieder von verschiedenen Seiten herbeigeströmt. Während ich mich durch den Matsch des Wegrands vorbeifädele, tönt aus dem allgemeinen Verzäll die Stimme einer älteren Frau im Rollstuhl: „Ich spreche akzentfrei Niederländisch, so dass mich ein Arzt gefragt hat: Wo kommen Sie eigentlich her?!“

Das könnte man jetzt falsch verstehen, als hätte der Arzt nach der Herkunft der Dame gefragt, um das Zentrum einer Epidemie zu lokalisieren, denn manche halten das Niederländische ja für eine Rachenkrankheit. Eigentlich ist Niederländisch jedoch eine hübsche Sprache, weshalb ich die Frau um ihre Fähigkeit beneide. Wenn ich in Südlimburg Niederländisch sprechen will, antwortet man mir auf Deutsch. Die Niederländer wollen offenbar nicht, dass ein Deutscher ihre Sprache verhunzt.

Wo kommen wir eigentlich her? Und was tun wir bei der Palisade des Nudistencamps? Als Student bin ich hier einmal vorbeigekommen, da saß ein Mann im Baum und schaute mit seinem Fernglas aufs Nudistengelände. Was er da wohl gesehen hat? Mir reicht eigentlich, was man in einer Sauna zu sehen bekommt, wenn die schützenden Bademäntel fallen. Da guckt man lieber nicht zuviel um sich, denn die meisten Leute sehen angezogen besser aus.

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Wir sind nicht wegen der Nudisten hier, sondern über die Serpentinen des Dreiländerwegs heraufgekommen, und bevor wir in den Wald fuhren, hätten wir einen schönen Blick über den Aachener Kessel gehabt, wenn es nicht so diesig wäre. Der Himmel hat einen merkwürdigen Zustand zwischen blau und bewölkt, als hätte das Wetter ein Praktikant gemacht. Das besorgt mich ein bisschen. Sollte der Himmel sich zuziehen, und der Praktikant gar ungeschickter Weise einen Temperatursturz herbeiführen, bin ich zu leicht angezogen, denn ich war erkältet.

Wir lassen den Menschenauflauf um die perfekt Niederländisch sprechende Dame hinter uns und rollen zwischen Palisade und Waldrand zur Stelle im Wald, wo sich Belgien, die Niederlande und Deutschland treffen. Dann befinden wir uns am Drielandenpunt, dem höchsten Berg der Niederlande. Man kann dort um eine Säule herumgehen und die imaginären Grenzen in einem Rund überschreiten. Prompt kommt die Sonne hervor und bescheint das bunte Treiben der Tagestouristen.

Übrigens ist der Himmel der Rhinoviren auch manchmal wolkenlos, – wenn keine lästigen Antikörper in der Nähe sind. Dann besuchen sie lustig Ausflugsorte und vermehren sich glücklich unter der Sonne des erkälteten Wirts, und leider befallen sie nicht nur Wirte, sondern auch deren Gäste. Rhinoviren werden meist von Hand zu Hand gegeben, und alle, die Ess- oder Trinkbares reichen, sind die Netzbetreiber für die Kommunikation zwischen Rhinovirus und Mensch. Diese Kommunikation findet statt, wenn wir auch die Inhalte sehr einseitig interpretieren. Sind zum Beispiel die Schleimhäute des Menschen durch das Wirken der Rhinoviren gereizt, bemerkt der befallene Mensch die Anwesenheit von Mikroorganismen, weil’s weh tut. Wehrt sich das Immunsystem des Menschen, erleben die Mikroorganismen, wie unwirtlich ihr Kosmos sein kann. So richtig für den anderen freuen kann man sich also nicht.

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Ohrenaufhängung
Welch ein Gewusel am Drielandenpunt, die reinste Kirmes. Ein Dicker mit Wanderstock beguckt sich versonnen die Namentassen vor dem belgischen Andenkenladen. Er ist wohl nicht dabei, aber den einen oder die andere kennt er bestimmt. Theoretisch lassen sich alle Touristen bei den Ohren aufhängen, doch die Vielfalt der Namen nimmt zu und wird auch immer seltsamer, das ist bei den westlichen Nachbarn nicht anders. Von manchem Knurr-, Gurr-, oder Zischlaut weiß man erst, dass er ein Name ist, wenn er auf einer Andenkentasse auftaucht. Die Welt der Namen zerstreut sich. Dem Zwang zur Konformität setzt der Mensch eine Individualisierung der Vornamen entgegen. Das wirkt ein bisschen hilflos und ist pure Namenmagie.

Unsere Sprachen beruhen auch auf der Idee der Namenmagie. „Benannt – Gebannt“, auf diese Weise eignet sich der Mensch die Welt an. Leider kümmert sich die Welt nicht um unsere Namenmagie. Sie gilt nämlich nur in der menschlichen Gemeinschaft.

Eigentlich müssten wir allen Lebewesen Empfindungen zubilligen, die der menschlichen Empfindung gleichwertig sind. Denn dass wir nichts darüber wissen, wie andere Lebewesen die Welt für sich reklamieren, ist kein logisch vertretbarer Grund, sich als die Krone der Schöpfung zu betrachten. Wir Menschen können uns ja auch nur gegenseitig über unsere Sicht der Welt Auskunft geben, und selbst da haben wir Verständigungsprobleme.

Sag mal, von Hollands höchstem Berg aus betrachtet, ist die Tiefsee dann tiefer? Man ist auf jeden Fall weiter weg von der ewigen Nacht des Meeresgrunds. Wie der Vielborster der Tiefsee die Welt erlebt? Er betet nicht die Sonne, sondern das Erdinnere an, denn seine Lebensenergie kommt aus unterseeischen Vulkanen. Doch die Nahrung kommt von oben. Ab und zu sinkt ein riesiger Kadaver wie Manna aus seinem Himmel.

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Wusstest du, dass derzeit etwa 5000 Walkadaver in der Tiefsee die Nahrung für die absonderlichsten Wesen bieten, die in dieser Welt entdeckt wurden? Seit 30 Millionen Jahren sinken Walkadaver herab, und um sie herum entfaltet sich ein reges Leben von Wesen, die uns fremder sind als alle Aliens, die du bisher im Kino sehen konntest. Wenn ich als Tagestourist über den Drielandenpunt streife, dann mag ich denken, ja, so ist die Welt. Doch so einfach ist die Welt eben nicht. Sie besteht aus unzähligen Kosmen, die sich alle irgendwie durchdringen. Die Gesamtheit aller Kosmen bildet das System unserer Welt. Ihre gemeinsame Basis ist der Austausch von Information. Ihre gemeinsame Musik ist Entstehung, Wachstum und Verfall im Wechselspiel.

Mit einem Hund zu kommunizieren ist leichter als mit einem Vielborster oder einem Rhinovirus zu kommunizieren, doch je fremder die Information, desto höher ist ihr Informationsgehalt, das ist schlichte Informationstheorie. Daher ist nicht nur das Leben im menschlichen Rachenraum, sondern auch das in der Tiefsee wichtiger für die Gattung Mensch als die Frage, ob wir uns gerade in Belgien, den Niederlanden oder Deutschland befinden. Wenn sich also alle Kosmen durchdringen, und jede Erscheinungsform des Lebens ihre eigene Interpretation der Welt hat, dann tut der Mensch gut daran, den anderen Arten nicht seine Interpretation der Welt aufzuzwingen. Denn anders wird deren Antwort für uns so unfreundlich sein, dagegen sind Halsschmerzen ein Sonntagsthema.

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Nachdenken über die Tiefsee

Auf Hollands höchsten Berg:
Nachdenken über die Tiefsee und intergalaktische Kommunikation

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