Nachtschwärmer Online – Ein Jahr abcypsilon777 – Erinnerung an die Wolfsburg-Notizen

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Fünf Etappen

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Een dag zonder verhaal – ein Tag ohne Geschichte. Wenn es auch nur ein kleiner Umbau des Teppichhauses war, so hat er mich trotzdem recht lange beschäftigt, und ich bin froh, dass weder Frau Nettesheim noch Mikage die Geduld mit mir verloren haben. Der Teppichhaus-Header brauchte dringend eine Auffrischung, und andere Kleinigkeiten wollte ich ändern.

In einer Woche, am 10. November, besteht das Blog abcypsilon777 genau ein Jahr. Es gibt viele Gründe, ein Blog zu beginnen. Bei mir war es heftiger Kummer, der mich einen Ausgleich suchen ließ. In den Anfängen hieß dieses Blog „Wolfsburg-Notizen“. Obwohl ich meinen Kummer buchstäblich ins virtuelle Off geheult habe, hat der Name eine andere Bewandtnis.

Vor Jahren bin ich einmal in Wolfsburg gewesen und habe das VW-Werk besichtigt. Bekanntlich ist das VW-Werk von den Nationalsozialisten gegründet worden. Der Name der Retorten-Stadt Wolfsburg erinnert noch daran. Vermutlich bin ich zu dünnhäutig, wenn ich sage, dass ich Reste dieses Geistes bei VW noch zu spüren glaubte. Gewiss geht die Wirkung überwiegend von der Architektur der alten Werksgebäude aus, doch mich haben dort auch andere Sachverhalte beeindruckt. Zu Beginn der Führung wurden wir in einem Saal begrüßt und instruiert. Während dieser Zeit standen seitlich des Redners Männer und Frauen vom Sicherheitspersonal, die Hände auf dem Rücken und grimmig dreinschauend. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von der engen Verbindung zwischen VW und den Nationalsozialisten wusste, waren mir diese grimmigen Wachleute wie Abkömmlinge einer zum Glück vergangenen Zeit.

Die Abkömmlinge verteilten die Gruppe später auf Wagen-Gespanne, um uns durch die Produktionshallen zu fahren. Da hat niemand von uns Widerspruch oder Sonderwünsche zu äußern gewagt.

Und später führte man uns in eine Halle, hoch wie ein Dom, an deren Innenkuppel auf multimediale Weise die Zukunft der „VW-Autostadt“ gezeigt wurde, die gerade im Entstehen war. Es war eine blasphemische, nahezu religiöse Verehrung des Verkehrsmittels Auto, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.

Einst hatte ich meiner Partnerin von diesem Götzendienst berichtet und von den anderen Dingen, die mir kritikwürdig erschienen. Seither machte sie „Wolfsburg“ zum Synonym meiner gesellschaftskritischen Äußerungen. „Ach, Wolfsburg!“, sagte sie dann.

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Das Blog abcypsilon777 hieß nur etwa 14 Tage „Wolfsburg-Notizen“. Denn inzwischen war mein nächtliches Heulen gehört worden. Leise Kommentare von mir fremden Menschen mahnten mich zur Mäßigung und gaben mir Rat. Und nach und nach ahnte ich die Personen hinter den Profilbildern und Nicknames. Die Diktion ihrer Sprache, ihre eigenen Texte, machten die fremden Menschen charakteristisch. Viele offenbaren in ihrem Schreiben auch ihr Weltbild, und ich entdeckte interessante Persönlichkeiten. Menschen an unbekannten Orten mit einem kaum erkennbaren Umfeld wurden mir auf der Plattform vertraut.

Es gibt in dieser Form der Kommunikation viele „Leerstellen“. Man füllt diese leeren Bereiche unbewusst mit den eigenen Erfahrungen und Vorstellungen aus. So entsteht das eigenartige Bild einer virtuellen Persönlichkeit, ein Produkt von dir und mir.

Ich entdeckte also vor einem Jahr, welch wunderbares Medium mir hier zur Verfügung stand. In kurzer Zeit wandelte sich mein Zustand. Ich wollte nicht länger wegen einer verlorenen Beziehung trauern, sondern endlich wieder in anderen Arealen meines Geistes umhergehen. Und indem die Internet-Kontakte reger wurden, schien sich mein Denken zu beschleunigen. Mein Denken und Fühlen löste sich von den jahrelangen Fesseln. Ich war immer rascher in meinem eigenen Kopf unterwegs. Diese Befreiung ließ mich eine seltsame Magie im Medium Blog spüren. Sie kam aus der völlig neuen Möglichkeit des interaktiven Schreibens. Welch eine inspirative Kraft kann von einem Kommentar ausgehen. Wie wunderbar können sich Gespräche in den Kommentarkästen entwickeln. Dinge, die man sonst niemals gedacht hätte, fliegen dir von überalll her zahlreich zu.

Zuweilen geriet mir etwas von dieser Magie in die Texte. Diese Texte wären unter anderen Bedingungen niemals entstanden. Sie sind das Produkt der geistig-virtuellen Verbindung mit anderen Bloggern.

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Wenn es lebhaft zugeht
auf der Plattform, spüre ich diese Magie immer noch. Wir Blogger gehören zu der ersten Generation, die ein völlig neues Medium benutzen kann. In den Blogs steckt große gesellschaftliche Kraft, und es ist noch gar nicht abzusehen, was sich aus dieser Kommunikations-Spielwiese entwickeln wird.

Als ehemaliger „Jünger der schwarzen Kunst“ habe ich bereits einen kommunikationstechnischen Umsturz erlebt, als Mitte der 70er Jahre die Satzcomputer den mittelalterlichen Bleisatz ablösten. Es war mehr als eine technische Veränderung, denn dieser Umschwung brachte eine Demokratisierung der drucktechnischen Schrift. Er hob die Trennung von Kopf und Hand auf, und in der Folge können wir heute unsere eigenen Autoren und Verleger sein. Natürlich geht damit eine Abwertung der Druckschrift einher. Die alte „Macht des gedruckten Wortes“ ist verloren. Sie wurzelte in dem Bewusstsein, dass am Entstehen eines Druckwerks viele Personen beteiligt sind: Da sind der Autor, der Verleger, der Lektor, der Schriftsetzer, der Korrektor, der Drucker, der Buchbinder, der Händler, und nur wenn all diese Leute ihre Arbeit getan und das Werk für gut befunden hatten, kam es in die Hand des Lesers. Damit einher ging ein großer materieller Aufwand.

Dies alles fehlt der Druckschrift im Blog. Die leichte Verfügbarkeit führt dazu, dass auch Text produziert wird, den man früher nicht wichtig genug gefunden hätte. Denn das drucktechnische Schreiben ist zur Privatsache geworden. Nun kann mit großem typographischem Aufwand ein Gespräch über den Gartenzaun geführt werden.

Da bleibt es nicht aus, dass manchmal mit den Kanonen der Form nach den Spatzen des Inhalts geschossen wird. Doch wer wollte dem die Berechtigung absprechen. Das Plaudergespräch ist auch eine Weise, das Bloggen zu nutzen.

Ach, vom Thema abgekommen. Ich wollte erzählen, wie die Wolfsburg-Notizen endeten…

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Wer über Kummer schreibt, findet rasch Kontakt zu anderen, die ebenfalls Kummer haben und nächtens unruhig sind. Doch ich wollte plötzlich kein Jammern und Klagen mehr bei mir, und ich wollte es auch nicht mehr bei den anderen. Also machte ich einen Ausverkauf der sentimentalen Gefühle.

Wer drückt am schönsten auf die Tränendrüsen? Die Teppichhändler. Da lag ein Prospekt in meinem Briefkasten, das ich für meine Zwecke veränderte.

TeppichVerkäufer1

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Diesen freiwerdenden Teppichhandel habe ich kurzerhand übernommen und „Teppichhaus Trithemius“ genannt. Der mittelalterliche Abt aus Trittenheim, der seinen Namen in Trithemius lateinisierte, litt allzeit an den mangelhaften Kontaktmöglichkeiten zu den geistigen Größen seiner Zeit. Damals waren Wege und Wasserläufe das Kommunikationsnetz, und in diesem Netz konnte man sich nur langsam bewegen. Hätte er ein Netz wie das Internet gekannt, er hätte sich im Paradies gewähnt. Ihm zu Trost und Ehren heiße ich Trithemius.

Ich wollte mein Teppichhaus hell und freundlich. Hier sollte ein freier Geist wehen. Witz, im alten Sprachsinne als die Verbindung von Wissen und Herz, sollte hier zu finden sein.

Diesem Anspruch werde ich nicht immer gerecht, denn zuweilen verliere ich die ruhige Geisteshaltung. Man möge mir das nachsehen.

Jedenfalls will ich in einer Woche zum 1-jährigen Bestehen des Teppichhauses eine Lesenacht machen von etwa 18 Uhr bis zur Stunde des Wolfes zwischen drei und vier Uhr, in der die meisten Menschen geboren werden und sterben. In dieser Lesenacht werde ich von einem Versuch berichten, in das Jahr 21346 zu reisen.

Gute Nacht, meine Lieben

Lobe am Abend den Tag
– Spruchweisheit aus der Edda –

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