Abendbumel Online – Sie haben die Haare schön

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„Unsere Sprache ist im Begriff, wie ein krankes Tier zu verenden“, klagte die Opernsängerin Edda Moser kürzlich im FAZ-Interview.

Und was Edda Moser ihrer geduldigen und kompetenten Gesprächspartnerin Melanie Mühl, zum Thema deutsche Sprache noch so alles kundtat, ist so ziemlich der größte Bockmist, den ich in der FAZ je gelesen habe. Um höflich zu bleiben, könnte ich dieser Dame nur ein einziges Kompliment machen:
„Sie haben die Haare schön.“

EddaMoser

Edda Moser; schöne Frisur

Seltsamer Weise fühlt sich stets die gleiche Bagage zur Sprachpflege aufgerufen; die bundesdeutschen Feinschmecker, Kulturschranzen und Pudernasen finden es einfach degoutant, dass Sprache eine demokratische Angelegenheit ist, an der alle teilhaben können wie an einem großen Wasserkunstwerk, das über Pipelines und kommunizierende Röhren mit jedem Haushalt verbunden ist, sogar mit den Straßen und Plätzen. Daran will man sich nicht den Mund dreckig machen, wobei natürlich die Sprachheger und -pfleger allein entscheiden, was dreckige Sprache ist und was nicht.

Heute sind in der FAZ zwei Leserbriefe erschienen, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Andrea Gehl aus Mülheim gibt in ihrem lesenswerten Brief „Verräterisch“ ein Beispiel für sinnvolle Sprachbetrachtung, indem sie das neudeutsche Wort „Prekariat“ kritisch beleuchtet.
FAZLeserbriefe

„Prekariat“ bezeichnet jene Unterschicht, deren Mitglieder sich nicht mehr um gesellschaftlichen Aufstieg bemühen. Viele von ihnen sind objektiv chancenlos, da sie nur über einen rudimentären Bildungsstand verfügen. Was ihnen wie Wasser aus dem Mund fließt, hat nur wenig mit dem zu tun, was wir gemeinhin als Hochsprache verstehen. Frau Edda Moser würde vor Entsetzen lang hinschlagen, wenn sie etwas davon in die Ohren bekäme.

In der Aachener Innenstadt sieht man nur wenige Vertreter des „Prekariats“. Die meisten von ihnen befinden sich schon da, wo sie nach Meinung der besitzenden Mittel- und Oberschicht auch hingehören: am Boden – als hockende oder kniende Bettler.

Ein nachtblauer Kombiwagen des Ordnungsamtes fädelte sich langsam durch die Fußgängerzone der Krämerstraße und hielt vor den Treppen von St. Foillan. Der Fahrer fuhr die Scheibe hinunter und starrte minutenlang wie ratlos auf die in sich versunkene alte Bettlerin.

Ich fand das sehr sinnbildhaft. Die Gesellschaft starrt auf ihre schmutzigen Kinder aus dem „Prekariat“. Seit Jahrzehnten spart man in der Bildung, hat man die Integration der Migranten versäumt und das Verarmen weiter Bevölkerungsschichten zugelassen. Jetzt weiß man keinen Rat. Oder ist es etwa ein Rat, wenn der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen meint, den dringend notwendigen Sprachunterricht für Migranten- und deutsche Unterschichtskinder sollen die Kindergärtnerinnen leisten?

Einen Aufstand der Besserverdienenden, den Leserbriefschreiber Dr. jur. Frank Schmitz aus Neuss sich wünscht, wird es nicht geben. Es hat auch nie einen Aufstand der Besserverdienenden gegeben. Nein, aber es gab und gibt seit der Ära Helmut Kohl einen schamlosen Pakt der Besserverdienenden zur Umverteilung des Kapitals von unten nach oben. Das ist keine Polemik, sondern eine allgemein anerkannte und statistisch belegbare Wahrheit.

Man kann sich also viel eher etwas anderes vorstellen als einen völlig unnötigen Aufstand der Besserverdienenden. Die brennenden Vorstädte von Paris sind ein Beispiel dafür, wie ein Aufstand des „Prekariats“ aussehen könnte. Wenn wir weiterhin das Verelenden unserer Mitmenschen zulassen, werden wir uns bald die Haare raufen.

Guten Abend

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