Abendbummel Online – Erst keinen erreicht, na gut, versuchen wir es später noch mal

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Zwischen Ordnung und Chaos ist nur ein schmaler Grad. Hat man zum Beispiel lange genug mit sich gehadert und endlich wieder Ordnung in der Küche gemacht, beginnt nach dem letzten Handgriff des Ordnens die erneute Anfechtung des Chaos. Immerzu liegt das Chaos auf der Lauer. Es gibt verschiedene Strategien der Grenzziehung, die allesamt nur für eine gewisse Zeit gelten. Der ordnende Geist ist ein einsamer Kämpfer und geht unter schwerer Last. Denn ständig zerren an ihm die Dämonen der Gleichgültigkeit, des Aufschubs und der Lethargie. Und die Grenzen, die es täglich, ja stündlich abzuschreiten gilt, um jede Okkupation im Keim zu ersticken, ja, sie sind erschreckend lang. So mancher schwache Krieger hat sich deshalb längst der Übermacht ergeben.

Jeder neue Gegenstand im eigenen Besitz ist eine Erweiterung der Ordnungsgrenzen, bringt Verunsicherung und birgt unbekannte Chaosrisiken. Der ehemalige Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel, wurde anlässlich eines Jubiläums gefragt, was man ihm denn schenken dürfe.
Rommel sagte:

„Meine Frau duldet keine weitere Einbringung von Gegenständen in unseren Haushalt.“

Das ist das Sichern der Ordnung durch die Festschreibung der Grenzen. Wer 2 Paar Handschuhe besitzt, braucht keine weiteren. Sie würden nur dem Chaos eine Hintertür öffnen.

Vor vielen Jahren kannte ich eine Generalin im Kampf gegen das Chaos. In ihrem Umfeld herrschte peinliche Ordnung. Die Grenzen sicherte sie mit festen Bollwerken aus Schränken, Regalen und probaten Fächersystemen. Da lagen in Schubfächern die Bleistifte sauber ausgerichtet und nach ihren Härtegraden aufsteigend von hart nach weich geordnet. Es gibt zwanzig Härtegrade, und wer es wagte, einen H-Bleistift achtlos in die B-Folge zu legen, wurde energisch zur Ordnung gerufen. Zurück ins Glied und niemals erlahmen!

Diese Dame ist kürzlich gestorben. Von ihrer Wohnung wurde gar Wundersames berichtet. Leider erreichte mich der Bericht erst heute. Die Ordnung der Generalin ist aufgelöst und in alle Winde zerstreut. Man hätte der Nachwelt unbedingt ein fotografisches oder filmisches Zeugnis geben müssen, dass es im chaotischen Universum einst einen Hort der perfekten Ordnung gegeben hat. Ich hörte, dass die Dame 20 Paar Handschuhe besessen hatte. Um sie zu ordnen, hatte sie sich von einem Schreiner „von einem guten Schreiner!“ flache Schubfächer in einen Einbauschrank einpassen lassen, die auf Rollen liefen. Darin lagerten die Handschuhe, und zwar so, dass jedes Paar Handschuh Platz genug hatte, sich auf die artigste Weise zu strecken. Die Paare waren nach Farben sortiert, einer künstlerischen Farbordnung entsprechend. In gleicher Weise waren die Blusen nach Farben gelagert, von Weiß nach Schwarz durch das gesamte Farbspektrum und vermutlich auf DIN-A4-Größe gefaltet.

Natürlich hatte die Dame allein gelebt. Ein Partner hätte ja ebenfalls ein Ordnungs-General sein müssen. Solche Menschen sind selten. Und hätte sie einen ihr ebenbürtigen General gefunden, wäre nicht ausgemacht gewesen, dass General und Generalin die gleichen Ordnungsstrategien verfolgen. Eventuell hätten sie sich im Disput verschlissen, während rundum das Chaos in Lauerstellung war.

Von der einsamen Generalin sind mir drei Bücher übereignet worden. Sie liegen jetzt auf meinem Tisch. Ich hoffe sehr, dass der Ordnungsgeist zu einer Eigenschaft dieser Bücher geworden ist. Spätestens morgen werden sie einen geziemenden Platz von mir fordern. Der Anstoß, der von ihnen ausgeht, könnte sich segensreich auf mein Leben auswirken. Die Befürchtung, dass mich die Bücher zum Ordnungsgeneral machen könnten, habe ich nicht. Der neue Ordnungssinn kommt ja nur in homöopathischer Dosis daher und macht mich allenfalls zum Hauptgefreiten.

Auf dem Gehweg flog mir heute ein Gesprächsfetzen zu:

„Erst keinen erreicht, na gut, versuchen wir es später noch mal …“

Sprachliche Äußerungen unterliegen ebenfalls einer Ordnung. Die sprachliche Ordnung verändert sich im Laufe der Zeit, passt sich Moden, neuen Gegebenheiten und Anforderungen an.

Ich ließ einmal einen Text aus dem 19. Jahrhundert in gegenwärtiges Deutsch übertragen. Im Text war vom Himmel die Rede, der einem tugendhaften Menschen offen stand. In der Übertragung ins heutige Deutsch kam der Himmel nicht mehr vor. Wer nicht mehr glaubt, kann auch keine himmlische Belohnung versprechen, ohne in ungewollte Komik zu verfallen.

Veränderte Lebensinhalte wirken sich also ebenfalls auf die Sprache aus. An Form und Inhalt lässt sich der Zeitgeist erkennen.
„Erst keinen erreicht, na gut, versuchen wir es später noch mal …“
Welche Form hat die Äußerung „na gut, versuchen wir es später noch mal“?
Ist es erlebte Rede oder ist es das Zitat einer wörtlichen Rede?
Wer ist mit „wir“ gemeint, ein Partner, oder ist es pluralis majestatis? Beides ist nicht zu entscheiden, weil die Redeeinleitung fehlt. Die Äußerung hat die Form einer sprachlichen Ellipse. Die Auslassung der kontextuellen Informationen setzt etwas als gegeben voraus.

Ich vermute, die Sprecherin hat mit „na gut, versuchen wir es später noch mal“ einen Gedanken wieder gegeben. Ähnliche Wendungen habe ich in letzter Zeit schon öfter gehört. Die Mitmenschen an den eigenen Gedanken teilhaben zu lassen, ist üblich geworden. Telefonieren in der Öffentlichkeit, das Bloggen im Internet sind Indizien dafür. Diese neue Verhaltensweise bringt neue Sprachwendungen mit sich.

Es ist sinnlos, die lebendige Sprache wie ein General zu stutzen, sie einzudämmen und in die Schranken zu weisen. Das kann man mit Handschuhen, Bleistiften und anderen toten Dingen tun, die sich in Schränken unterbringen lassen.

In den meisten Fällen reicht eine homöopathische Dosis Ordnung. Chaos und Ordnung sind Prinzipien des Lebens. Darum ist es besser, weiche Grenzen zu gestatten.

Neues drängt sich zuerst als Chaos auf, bevor es einer Ordnung einverleibt wird. Überkommene Ordnungen zerstreuen sich in alle Winde.

Guten Abend

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