Abendbummel Online – Wirsch ließen

Abendbummel_rot_72dpi

Gestern war mein Kopf gedankenleer, und darum habe ich Menschen vor dem glitzernden Büchertempel der größten Aachener Buchhandlung gezeichnet. Obwohl einige von ihnen in den Remittenden wühlten, musste ich mich beeilen, denn der heutige Mensch bleibt nicht lange an einem Ort.

Heute hatte ich Lust, in die Gemeinschaft der denkenden Menschen zurückzukehren. Es war ganz einfach – ich ging in die Bibliothek. Das Schreiben und besonders das Lesen im Internet führen zu dem Trugschluss, das Wissen der Welt ließe sich so einfach ergoogeln. Nichts ist weniger wahr. Im frei zugänglichen Internet findet man oft nur das Surrogat von Gedanken. Da ist das originäre Denken anderer von einem anonymen Kopf wiedergekäut, dessen Fähigkeit zum Wiederkäuen man nicht einschätzen kann, weil man nichts über den Zustand seiner Zähne weiß.

Etwa zwei Stunden verbrachte ich in der Bibliothek, ließ mich durch die Regalreihen treiben, suchte nichts, sondern fand. Der Bücherstapel in meinem Arm wuchs, und da ich alles auf meinem Buckel nach Hause tragen musste, begann ich bald zu erwägen, welches Buch ich eventuell dalassen würde. Bücher haben Gewicht. Doch selbst meine angestrengte Rückenmuskulatur ist kein Grund, sich nicht darüber zu freuen. Wenn Texte eine materielle Form angenommen haben und Buch geworden sind, sind sie tragbar, greifbar und begreifbar und manchmal sogar wunderbar. Das Buch einer Bibliothek ist darüber hinaus ein Exemplar. Es hat Geschichte. Sie zeigt sich in Lesespuren, Randbemerkungen, Eselsohren, Kaffeeflecken …

Ein Manko der digitalen Kommunikation ist das Verschwinden des Exemplars. Das körperlose Wort, das körperlose Bild sind geschichtslos und nicht einmal Duplikate. Sie sind nichts. Erst wenn man einen digitalen Text ausdruckt, gibt man ihm wieder Geschichte, benutzt ihn und setzt ihn Verfallsprozessen aus.

Anders also die Buchexemplare in meinem Arm. Nur dünne Bücher mitzunehmen wäre ein sinnvolles Auswahlkriterium. Ein dickes Buch über eine Sache ist viel einfacher zu schreiben als ein dünnes Buch. Einige meiner Lieblingsbücher sind Büchlein. Nach jedem dritten Satz muss man das Buch sinken lassen und den Ideen folgen, die die Sätze angestoßen haben. Das Wiederaufnehmen des Textes geht wiederum leicht. Er steht ja in einem dünnen Büchlein.

Während ich die verschiedenen Etagen der Bibliothek besuchte, hatte man im Foyer einen Bücherflohmarkt aufgebaut. Da war kaum ein Durchkommen, denn es wurden in der Tat feine Bücher verramscht. Manche Leute vermachen ihre Bücher einer Bibliothek. Doch die Bibliothekare sind eigen. Sie nehmen kaum je etwas davon in ihren Bestand auf, wenn ihnen einer seine Allerweltssammlung vermacht. Anders als in einer Buchhandlung sind die Bücher einer Bibliothek nach ihrer Bedeutung ausgewählt. Was durchfällt wird verramscht.

Wie zahlreich sind doch die Bücher, die ich nicht haben will. Es war aber auch einfach zuviel Gedränge vor den Tischen. Bücher auf Ramschtischen haben für mich sowieso Ähnlichkeit mit Brötchen von vorgestern.

Ach ja, die Überschrift: Als ich durch die Stadt zurückbummelte, las ich

Wirsch ließen

in einem Schaufenster. Die blitzende Herbstsonne spiegelte sich im trüben Fensterglas, und ich musste zweimal hingucken, um den Text zu erkennen. Was für eine seltsame Botschaft.

In Wahrheit hat dort natürlich „Wir schließen“ gestanden. Und ich habe nicht einmal zwei Minuten gebraucht, um dahinter zu kommen. Wie schrecklich wäre es, so nach und nach das Lesen zu verlernen. Zum Glück habe ich einige schmale Bücher, um in Ruhe zu üben.

And as you read
The sea is turning its dark pages,
Turning
Its dark pages.

(D. Leverton)

Dieser Beitrag wurde unter Teppichhaus Intern abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

13 Kommentare zu Abendbummel Online – Wirsch ließen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.