Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 26

Folge 26
Zeit ist Herz

Ich will anders denken über mein Leid und nach außen schauen.
Wenn Dinge gut sein sollen, müssen Sie Herz haben. Das Herz gibt die Zeit vor, der Herzschlag bestimmt den guten Rhythmus. Man muss lernen, wieder auf sein Herz zu hören, damit man den Dingen die angemessene Zeit gibt.

Der Mensch kennt viele Formen der Kommunikation. Wenn man die menschlichen Kommunikationsformen betrachtet, aufsteigend von der telepathischen über die gestische zur oralen, weiter über die handschriftliche zur gedruckten und zur elektronischen Kommunikation, dann sehen wir, dass die technischen Formen weniger Gefühl in sich tragen, denn sie machen die Anwesenheit des Menschen überflüssig. So ist dann einleuchtend, dass die schnelle, fast herzlose elektronische Kommunikation das Leben auch schnell und herzlos macht. Unter dieser unmenschlichen Härte leidet der postmoderne Mensch. Wenn die Härte in sein Leben einfließt, dann geschieht das nicht abstrakt, sondern durch reale Verschlechterung der Rahmenbedingungen. Doch der Einzelne empfindet es als persönliches Versagen oder als Schicksalsschlag, eine Strafe Gottes, gegen die er sich nicht auflehnen kann. So gibt das Leben ihm ein schier unlösbares Rätsel auf. Er fragt nach seiner persönlichen Schuld.

Die Härte des Lebens ist Schuld all derer, die am Kommunikationsprozess teilnehmen. Nur in diesem Sinne trägt auch der Einzelne die Schuld, wenn er teilhat an der elektronischen Kommunikation. Durch die globale Vernetzung wird der Kreis der Kommunizierenden immer größer, so dass die Interessen von Menschen an anderen Orten ständig und im raschen Wechsel in unser Leben eindringen und uns hilflos machen. Denn die Urheber unseres Unglücks sind unsichtbar. Der Mensch schaut sich jedoch naturgemäß in seiner unmittelbaren Umgebung nach Gefahr um. So wird er die Quelle seines Unglücks beim Partner, dem Nachbarn oder bei seinem Chef suchen. Seine Hilflosigkeit erzeugt Aggression, und die richtet er auf die Menschen, die sich auf Armeslänge um ihn herum aufhalten. Dies erklärt auch die Gewalt in Familien, die schrecklichen Nachbarschaftskonflikte, die Gewalt unter Jugendlichen usw. Je weiter also sich der Urheber des persönlichen Unglücks weg befindet, desto weniger trifft ihn die Abwehrreaktion des gequälten Menschen. In diesem Sinne ist das heutige Sozialleben völlig aus dem Lot.

Auch jene, die sich nicht an der elektronischen Kommunikation beteiligen, leiden unter der Härte der Unzeit. Menschen, die z.B. in oralen Kulturgemeinschaften leben, werden plötzlich mit unserer Kommunikationsform konfrontiert. Sie hatten nicht die Gelegenheit, sich durch Handschrift und Schriftsatz dem Tempo des Internets anzunähern. Diese Menschen müssen sich gleichsam fortgerissen fühlen, aus dem Boden gerissen und entwurzelt. Darum versinken die Völker zunächst im Elend, wenn sie sich haben vereinnahmen lassen. Das sieht man bei den Inuit, den Aborigines, den Indianervölkern…

Diese Völker hatten nicht die Gelegenheit, ihr Denken auf die Geschwindigkeit hin auszurichten, ja, sie haben sich aus Klugheit dieser Idee verschlossen. Ihre Zeitidee ist zyklisch, sie ist orientiert an der Wiederkehr. Die jährliche Wiederkehr des tauenden Eises, der Herden des Jagdwilds, die Wiederkehr der Regenzeit usw. Entsprechend langsam verändert sich ihr Leben. Verändern muss es sich auch, denn die natürlichen Rahmenbedingungen verändern sich gelegentlich. Doch auch die Anpassung an neue Bedingungen geht in der Regel langsam vonstatten.

Unsere lineare Zeitidee hat ja auch langsam begonnen. Ihr Beginn liegt in der Erfindung des Buchdrucks, denn er brachte die Verbreitung der Schrift im großen Stil.

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