Die letzte Freinacht – eine Lesung, Folge 6

Folge 6
Einige Worte zum Manuskript, wie ich es vorfand:
Der Text schien zunächst völlig konfus zu beginnen, bis ich bemerkte, dass die Zeilen dort nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben gelesen werden mussten. Dies ändert sich nach sechs Seiten. Es folgen acht normal geschriebene Seiten, dann wechselt die Richtung wieder, ab dort überwiegt der Acht-Seiten-Rhythmus. Um es zu verstehen, muss man sich die ursprüngliche Form des Textes vergegenwärtigen, bevor er in Seiten aufgeteilt wurde. Vorausgesetzt, der Schreiber des Zettels hat sich zuverlässig erinnert, so hat ja sein Schlafgast offenbar über dem Kopfende des Bettes begonnen.

Wir stellen uns vor, wie er auf dem Bett liegt, sich dreht und wendet und nicht in den Schlaf findet, dann einen Bleistift hervorkramt und zu schreiben beginnt, unmittelbar über seinem Kopfkissen. Er schrieb ein Wort und noch eines, und dann, einem rätselhaften Impuls folgend, arbeitete er sich schreibend die Wand hoch. Auf dem Bett kniend, dann stehend, langte er irgendwann am Deckenfries an, und schrieb von dort absteigend in normaler Zeilenfolge weiter. Später wird er den Stuhl benutzt haben, behielt aber das einmal gewählte Verfahren bei, sehr zu meinem Leidwesen, denn es erschwert die Transkription ungemein.

So ist das ganze Manuskript in einem höheren Sinne furchenwendig geschrieben, auf Spaltenbasis, eine Meta-Bustrophedon, wie der Ochse pflügt. Es ist eine hübsche Vorstellung, den Schreibakt dieses Mannes zu vergleichen mit einem nächtlichen Pflügen. Wir sehen das Ochsengespann, wie es furchenwendig über die frische Tapete getrieben wird, hören das Hüh! und Hoh!, wenn es nicht weiter will, und das Ächzen im Joch, wenn die Sprache sich nur noch mühsam den Ideen fügt. Und wie lustig klirrt das Geschirr, wie freudig schnauben die Ochsen, wenn es hurtig vorangeht!

Eine Einschätzung des Inhalts und Aussagen über das Motiv des Schreibers sind rein spekulativ. Am ehesten neige ich der Theorie zu, dass ich das Ergebnis einer rituellen Schreibhandlung in Händen halte, deren orale Entsprechung die Ofenbeichte ist, bei der man sich vor die offene Ofenklappe kniet und ins Feuer spricht.

Eine extreme Position hat ein mir bekannter Mediziner vertreten. Er behauptet, aus seiner ärztlichen Praxis Fälle zu kennen, dass von Mogigraphie oder auch Chirospasmus geheilte Patienten vor Freude über die Genesung auf einen Schlag Unmengen von Handschrift produzieren. Dies sein besonders bei sogenannten Spontanheilungen zu beobachten.

Hier das Manuskript:

Folge 7

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