Auf der Kaiserroute (1)

1. Tag bis zum nächsten Morgen

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Oben im frühlingshaften Wald bei Süssendell wurde mir zum ersten Mal bewusst, auf welcher Route W. und ich fuhren. Die Kaiserroute Aachen-Paderborn, das zeigten die sechseckigen Hinweisschilder mit den Richtungspfeilen darunter. Doch was heißt es, auf den Spuren Karls des Großen zu fahren? Hat er etwa eine Pilgerfahrt nach Paderborn unternommen, und lagerte er in freudiger Erwartung unter den ergrünenden Bäumen, umringt von ein paar frommen Männern? Eher nicht, sagte W. – Karl war unterwegs mit seinem Heeresbann, um die Sachsen zu strafen, die nicht von ihren heidnischen Göttern lassen wollten. Und während Karl im Jahre 782 noch bei Süssendell lagerte, sind da bei Verden 4500 Sachsen, die ihrem Tagwerk nachgehen und nicht ahnen, dass sich einer aufgemacht hat, ein Blutgericht an ihnen zu vollziehen.

Mir fiel das Wort von Kafka ein:

„Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.“

Natürlich ist nicht nachvollziehbar, wo Karls Heeresbann tatsächlich entlang gezogen ist. Es gibt keine archäologischen Funde, die seinen Weg belegen, und gar die Enthauptung der 4500 Sachsen ist nicht bewiesen.

Sollten wir auf unserer Tour Nachkommen von heidnischen Sachsen finden, würde es jedenfalls bei einem „Guten Tag“ bleiben. Ich wüsste nämlich im Moment nicht, welche Religion man ihnen „freundlich empfehlen“ sollte. Übrigens empfing uns bei Paderborn junges Volk mit der Laola-Welle, doch davon viel später.

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Wir folgten am ersten Tag nicht ganz der Kaiserroute, denn wir wollten ein wenig abkürzen. Es ging in Richtung meiner Heimat. Vorher jedoch, bei Bergheim, war die Welt ein wenig in Unordnung. Hier hat man wegen der Braunkohle die Straßen derart verlegt, dass es schwer war, sich zurechtzufinden.

Der Rheinländer hat ja eigentlich Bodenhaftung und ist fromm. Bei ihm werden die Verstorbenen noch „In die Ewigkeit abberufen“, wie ich im Aushangkasten einer Kirche sah, die gleich zwei Heiligen gewidmet war. Doch ökonomische Zwänge und ein bisschen Gier haben dazu geführt, dass dieser fromme bodenständige Rheinländer seine Heimat ans RWE verkauft hat.

Der Ort Niederaußem ist ein bedrückendes Beispiel. Im Vordergrund eine schöne alte Kirche. Mausklein wirkt sie vor den riesigen Kühltürmen dahinter. Wenn du eine bildhafte Metapher haben willst für den Bedeutungsschwund der Religion in einer technisierten Welt, dann findest du sie hier. Neben den Kühltürmen hat das RWE ein gewaltiges neues Kraftwerkgebäude errichten lassen. Man sieht ein fünfstöckiges Bürogebäude an der Seite, das in normaler Umgebung gewiss als großes Haus gelten könnte. An dem Koloss aber ist es wie ein winziges Schwalbennest, das zu Boden gerutscht ist.

In Rommerskirchen trafen wir wieder auf die Kaiserroute. Wir fuhren auch an dem Haus vorbei, von dessen Balkon ich einmal in der Nacht zum ersten Mai mit dem Luftgewehr beschossen wurde. Das Versteigern von Dorfschönheiten als Maibräute ist eher in der Gegend um Düren üblich. Wir sahen unterwegs Plakate, wo es angedroht wurde.

In meiner Heimat ist die Nacht zum ersten Mai eine Freinacht. Man darf dann allerhand Dinge, die man üblicherweise nicht darf, zum Beispiel Fensterläden und Hoftüren aushängen und natürlich Maibäume setzen.

Uns war gegen Morgen eingefallen, dass wir einem Mädchen in Rommerskirchen noch einen Maibaum setzen mussten. Den versuchte ich im Vorgarten dieses Hauses zu besorgen. Der Baum war hartnäckig, ich bekam ihn nicht ab, da ich nur eine kleine Axt hatte. Da trat der Hausbesitzer im Schlafanzug auf den Balkon, in der Hand eine Flobert, mit der er dann auf mich schoss. Zum Glück dämmerte es gerade erst, da hat er nicht getroffen. Das Mädchen bekam dann leider keinen Maibaum. Das Setzen von Maibäumen ist ein altes Fruchtbarkeitsritual. Sie wird wohl kinderlos geblieben sein.

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Vor Nettesheim hatte ich endlich das richtige Heimatgefühl. Man kann dort bis zum Horizont sehen. Es gibt nur Felder und Pappelreihen. Diesen weiten Horizont liebe ich, denn er lässt Platz für eigene Gedanken.

Hinter dem dicht bewaldeten Bahndamm, auf dem niemals Gleise gelegen haben, endlich die Sicht auf das Dorf. Es hat einmal den dritten Preis im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ gewonnen. Allerdings hat das nichts mit meinen Gefühlen zu tun, wenn ich über den Kastanien des Gutshofes den Kirchturm von St. Martinus sehe. Auf der Ecke ein altes Transformatorenhaus, aus dunkelroten Klinkern erbaut. Dort habe ich in meiner Jugend trommeln geübt. Freitagabends trommelten wir am Trafohaus „Alte Kameraden“ oder den „Lockmarsch“; ich spielte im Tambourkorps.

Später spielte ich Schlagzeug und übte im Dachgeschoss der Schule drüben hinterm Bach, wo wir auf zwei Etagen wohnten. Da klingelte einmal eine Schülerin bei uns. Die Lehrerin bitte darum, ich solle eine Pause machen, denn die Kinder würden im Unterricht den Rhythmus mittrommeln.

Im Ort erkannte ich niemanden. Ich bin einfach schon zu lange weg. Doch manchmal bin ich zum Schützenfest dort. Vor ein paar Jahren stand ich neben meinem alten Schulkameraden Juppi am Denkmal und schaute mir die Parade an. Er ist der Dachdecker des Ortes und nie weg gewesen. Für ihn war die Parade eine fachmännisch zu beurteilende Angelegenheit. „Dieses Tambourkorps hat zu früh eingeschwenkt“, sagte er, und jenes habe keinen Zack. Die aus Anstel dagegen hätten ihre Sache gut gemacht.

Ich erinnere mich noch gut an den samstäglichen Fackelzug zum Schützenfest. Der alte Bürgermeister hielt am Kriegerdenkmal jedes Jahr die gleiche Rede, worin er „die Gefallenen der beiden Weltkriege“ gedachte. Mit den Artikeln nahm er es nicht so genau. Er war Bauer, kein Grammatikexperte.

Frixheim, der nächste Ort, war mir nie ganz geheuer. Die Frixheimer haben keine Kirche und kamen mir immer ein bisschen finster vor. Ihre Kneipe hieß „Zum dreckigen Löffel“, und es verkehrte dort übles Volk. Später ist der Saal nebenan abgebrannt. Das war „Meuters Fluch“, sagten wir, doch von Meuters Fluch müsste ich ein anderes Mal erzählen.

Ich habe jedenfalls einmal gelesen, dass Frixheim eventuell früher Friggasheim hieß. Frigga ist eine heidnische Göttin, das wäre die Erklärung. Übrigens sind die Dörfer auf „heim“ die ältesten im Land. In manchen Ortsnamen erkennt man das „heim“ nicht mehr, weil es zu „em“ oder „um“ geworden ist. Oberaußem, Niederaußem, Eckum, Selikum, Elvekum, dahinter verbirgt sich auch ein Heim.

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Knechtsteden, ein Kloster im Wald, wo man einst ein Afrika-Museum hatte, das die Exponate enthielt, die von den Missionaren des Klosters über die Jahrzehnte hinweg geraubt worden waren. Ich fand, es war ein „Bimbo-Museum“, wo der gaffende Rheinländer sich ansehen konnte, was die „dummen Heiden“ für Kunst und Kultus hielten. Man hatte auch ein „Negermännchen“ dort, eine sitzende Figur, in deren Schoß ein Geldschlitz eingelassen war. Wenn man Geld hineinwarf, dann nickte das „Negermännchen“. Ja, das hat der Europäer gern.

Der Wald ist ein Reststreifen Auwaldes, der in einem alten Rheinarm gewachsen ist. Wir fuhren hindurch bis Straberg. Nach diesem Ort hat mein Freund M. die Hauptfigur unseres Krimis genannt, denn ich bin aus familiären Gründen häufig dort.

Weiter an Kiesgruben vorbei nach Zons, wo wir übernachten wollten.

Ich hatte einmal erwogen, in Zons zu leben. Diese mittelalterliche Zollfeste am Rhein hat mich schon immer angezogen. Doch am späten Abend dachte ich plötzlich anders darüber.
Zunächst einmal war ich heilfroh, dass W. ein Zimmer vorbestellt hatte. Die Adresse war ein Lokal an der Stadtmauer, dem Rhein zugewandt. Die Wirtin stand hinter dem Tresen und hatte vor sich nur einen Gast. Den musste sie nun allein lassen, um uns das Zimmer zu zeigen. Es lag in einem Privathaus außerhalb der Stadtmauern. Sie kam uns mit dem Auto hinterher, und als sie uns die Garage für die Räder aufschloss, erklärte sie, ihr Mann sei noch nicht zurück. „Keine Ahnung , wo der wieder aushängt!“
Als W. sie am nächsten Morgen fragte, ob ihr Mann inzwischen wieder eingetrudelt sei, grummelte sie etwas Unverständliches. Eventuell war ihr Mann vor Jahren einmal aus dem Haus gegangen, um Zigaretten zu holen – man weiß ja von solchen Fällen …

Doch zurück zum Abend. Die Wirtin mit oder ohne Mann vermietete uns ein ganzes Appartement, sogar eine kleine Küche, zu 50 Euro.
Zum Essen gingen wir in die Altstadt zu einem italienischen Lokal, das jedoch von Einheimischen geführt wird. Es bediente uns eine ausnehmend freundliche und hübsche Inderin. Na ja, sie lernte noch. Wenn Sie etwas abräumte, fragte sie nicht, ob es geschmeckt habe, sondern: „Sind sie fertig?“ Ja und nein, dachte ich jedes Mal.
Vorher hatte ich ihr gesagt, dass ich Vegetarier sei. Und sie nickte wissend: „Aha, keine Eier!“
Ich sah ihn einmal Olli Kahn im Fernsehen nach einem verlorenen Spiel der Bayern, und als er nach dem Grund für die Niederlage gefragt wurde, sagte er auch „Keine Eier!“
Deshalb sagte ich rasch: „Eier ja, ich esse kein Fleisch.“
„Ach so“, sagte sie und hatte schon wieder etwas dazu gelernt. Es war an diesem Abend noch zu kalt für Touristen. Deshalb saßen wir bald allein im Lokal. Und bald wurden wir von der Wirtin sehr unsanft und unfreundlich zum Gehen genötigt, schließlich waren wir doch schon eine Weile „fertig“.

Da dachte ich, vielleicht sind ja alle Zonser so. Sie sind schließlich Abkömmlinge von Zöllnern, was ja nur eine legalisierte Form der Wegelagerei ist. Es ist vielleicht mit den Zonsern ähnlich wie mit den Ureinwohnern einiger friesischer Inseln, die dem Vernehmen nach von Strandräubern abstammen. Die behandeln ihre Gäste auch gern ruppig. Du sollst dein Geld da lassen, am besten dann aber gleich wieder gehen.

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Der Morgen empfing uns mit kalter Sonne. Der Rhein hatte lindes Hochwasser. Wir kamen gerade rechtzeitig für die Fähre.

Man zieht morgens Socken an, trinkt Kaffee, fragt die Wirtin nach ihrem verschollenen Mann und vieles mehr. Irgendwo in einem anderen Haus zieht auch ein Mann die Socken an, trinkt Kaffee, redet nicht mit seiner Frau, schwingt sich auf sein teures Bike und fährt los. Komisch, dass all die Imponderabilien so zusammen passen, dass wir ausgerechnet gemeinsam auf der Zonser Fähre standen.

Ich mochte noch gar nicht reden, wollte auch die Überfahrt über den kabbeligen Rhein genießen. Doch unglücklicher Weise fing W. ein Gespräch mit dem jungen Mann an. Sie redeten über sein Bike, und dann begann er einen Vortrag zu halten, – über Fahrräder, für welches meins gut sei, für welches seins gut sei, was man bei Fahrrädern beachten müsse und so fort. Ich war völlig überwältigt, dass ich nach 20 Jahren Radsport endlich einmal erfuhr, was ein Fahrrad auszeichnet. Hätte der Kerl doch beim Frühstück seine Frau einmal geküsst. Dann hätte er vielleicht die Fähre verpasst. Ich hab auf der anderen Rheinseite einmal gefühlt, ob mein Ohr noch dran war. Er wollte übrigens zum Segelfliegen. Später sahen wir ihn in der Luft. Zum Glück hatte er kein Megaphon bei sich.

Teil 2

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