Nachtschwärmer Online – DEus zu dEUS

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 22:00 Uhr

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Seit Tagen summe ich ein Lied. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Kennst du „Instant Street“ von der belgischen Rockgruppe dEUS, meine Liebe? Ein mitreißendes Stück, das verhalten und melodisch beginnt, um dann in seinem zweiten Teil immer wilder und rauschhafter zu werden. Die Musik hat etwas absichtsvoll Schräges, das mir gut gefällt.

Findest Du nicht auch, dass absolute Perfektion langweilig ist? Sieh einmal, ein schönes Gesicht wie Deines. Wäre es völlig gleichmäßig, hätte es nicht den Reiz, den es hat. Zum Glück unterscheiden sich die beiden Gesichtshälften bei jedem Menschen. Da gibt es die starke rechte Seite, die man gern der Außenwelt zeigt und die emotionale, zarte, die einem selbst gehört. Und das Zusammenwirken der beiden Hälften macht die Schönheit des Menschen aus. Wenn ich die getunten Bilder von Frauen in Modezeitschriften sehe, fehlt mir dieser Reiz. Weißt du, was mir aufgefallen ist? Die Gesichter sind nicht nur geschminkt oder von Schönheitschirurgen umgeformt, nein, sie werden auch noch fototechnisch so bearbeitet, dass man nicht mehr erkennt, welcher Mensch hinter der Gesichtslarve steckt. Dabei ist doch das Gesicht des Menschen seine wichtigste nichtsprachliche Ausdrucksform, oder?

Wir müssen jetzt durch das Unterholz den Bahndamm hinauf. Warte, ich helfe Dir, da sind Dornenranken. Halte dich dicht hinter mir, ich trete sie für dich zu Boden. Kein Härchen darf dir gekrümmt werden, kein vorwitziges Zweiglein darf dich streifen. Nimm am besten meine Hand, ja?

Zum Glück haben wir ein wenig Licht von der Straßenlaterne beim Viadukt. Das große einsame Haus auf der anderen Straßenseite hat mich schon immer fasziniert. Wieso man es wohl dort erbaut hat? Es war einmal eine Gaststätte darin. Doch wer kommt hier vorbei? Die Arbeiter vom Steinbruch drüben? Keine Ahnung. Ich dachte immer, in dieser Gaststätte haben sich früher bestimmt Räuber und Mordbuben versammelt. Nein, es ist nur Spaß. Du darfst mich ruhig boxen, wenn ich Blödsinn erzähle. Na, nicht so fest, ich bin auch ein Mensch.

Ah, das Dickicht lichtet sich. Gleich finden wir unser Gleis wieder. Schau einmal, hier hat ein Dachs gegraben. Oder war es ein Fuchs, der seinen Bau erweitert hat? Egal, wir stören nicht, wir sind gleich oben, … und dann rennen wir zur Draisine.

Uff, ist das Weib flott. Ich komme … verflixt … noch mal …. als letzter. Gut, du hast gewonnen. Du hast einen Wunsch frei. Erinnere mich morgen daran.

Sitzt du gut, kann es losgehen?

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Eisen auf Eisen rollt sich ab

Tock tock tock

Wir fahren vorsichtig an, denn das Viadukt ist baufällig. Mach dich leicht, meine Liebe.
Ach, was siehst du wieder entzückend aus. Ich möchte dich malen, ich will dich besingen, heitere Verse will ich deinem Liebreiz widmen …

Ja, ich bin albern, verzeih, doch ich musste dich ablenken, damit du Lücken zwischen den Schwellen nicht siehst.

Jetzt sind wir drüben und außer Gefahr. Setz dich bequem, wir fahren rasch. Guck mal, du sitzt jetzt rechts von mir, wendest mir also deine emotionale Gesichtshälfte zu. Das ist gut, denn so erreichen dich meine Worte besser. Fährt man jedoch allein, im Zug zum Beispiel, sollte man die linke Gesichtshälfte dem Fenster zuwenden, dann vermitteln sich die Eindrücke der Landschaft besser. Man nimmt sie intensiver auf – Ja, du hast recht, vorausgesetzt, es lohnt sich, sie aufzunehmen.

Eisen auf Eisen rollt sich ab.

Wir rollen auf Breinig zu, hörst du?! Auf Breinig! Ja, es ist ein seltsamer Ortsname, doch ich habe heute, verdammt noch mal, keine Lust, über seine Etymologie nachzudenken. Was habe ich von dieser trockenen Wissenschaft …

Tock tock

… wenn neben mir eine Frau wie du sitzt. Ich bin gerade ziemlich beschwippst von dir.

Über uns weitet sich der Himmel, die Götter sind uns hold. Du willst Sternenlicht? Her damit! Wir nehmen heute, was wir kriegen können. Und Fahrtwind wollen wir, die Luft soll brausen. Ja, und selbstverständlich wollen wir das aufgeregte Sirren der Schienen, die schräge Musik aus Stahl und Eisen!

Tock tock tock

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Dort drüben siehst du die ersten Lichter von Breinig. Was sie wohl machen in ihren Häusern? Hocken sie vor den Flimmerkisten und lassen sich die Köpfe betäuben? Und reden sie ihr abendliches „Hm?“ und „Häh?“ – „Weiß nich, will nich, kein’ gesehn.“ ?

Was meinst du, es ist uns heute Nacht egal?! Du gefällst mir, wirklich, mit dir kann man Pferde stehlen – beziehungsweise Draisine fahren.

Da oben irgendwo muss Varenum sein. Los, schieb uns, Varneno, wir wollen Rückenwind für unseren Geschwindigkeitsrausch!

So redet man nicht mit einem Gott? Wieso, bitteschön? Wenn es ihn gibt, hat er uns nicht auch den Übermut geschenkt, damit wir uns manchmal von den Fesseln des Alltags lösen können? Ist er es nicht, von dem wir die Heiterkeit und den Witz haben? Will er vielleicht, dass wir ständig in Sack und Asche rennen?

Was denkst du, habe ich mir ein Stachelband um den Oberschenkel gebunden, wie es mache Priester von Opus Dei tun? Wenn ich da oben im Himmel etwas zu sagen hätte, dann würde ich den Kerlen eins drüber geben dafür, dass sie mich für einen Barbaren halten, der solche Dinge von ihnen verlangt. Ist das Leben vielleicht nicht hart genug? Müssen mehr Orkane, Erdbeben, Hungersnöte und Epidemien her?

Tock tock tock

Gut, meine Liebe, ich will mich mäßigen. Wir müssen ohnehin ein wenig langsamer fahren, wenn wir den Ort erreichen.

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Ach übrigens die Rockgruppe dEUS. Sie schreiben sich verkehrt herum groß. Es ist eine witzige Anspielung auf die Großschreibung des Gottesnamens. Wusstest Du eigentlich, dass die Großschreibung in unserer Orthographie daher stammt?

Warte, ich erzähle es dir gleich, wenn wir die Dorfstraße von Breinig gequert haben.

Tock tock tock

Also, du weißt vielleicht, dass unsere Kleinbuchstaben von der carolingischen Minuskel abstammen. Unter Kaiser Karl gab es eine erste Schriftreform, damit im ganzen Reich einheitlich geschrieben wurde. Die carolingische Minuskel hat nur wenige Unterschiede zu unseren Kleinbuchstaben. Es gibt keinen i-Punkt, der entstand später zur Verdeutlichung. Und das „t“ war anders, der senkrechte Strich stieß noch nicht nach oben durch.

Guck, da vorne taucht das Bahnhofsgebäude auf. Es ist ganz hübsch, oder?

Spätere Schreiber kamen auf die Idee, man müsse den Namen Gottes irgendwie hervorheben. Also setzten sie einen alten Unzial-Buchstaben an den Anfang. Er war wie ein Großbuchstabe. Später tat man das auch bei Heiligen und weltlichen Fürsten.
Man schmückte diese Initial-Buchstaben besonders aus. Du kennst es aus der Buchmalerei. In der Barockzeit nahm die Großschreibung überhand. Inzwischen hatte sich die carolingische Minuskel gewandelt. Man schrieb ihre Rundungen gebrochen, deshalb der Name Fraktur. Irgendwann wurden alle Wörter, die ein Schreiber wichtig fand, mit großen Anfangsbuchstaben versehen. Das waren die Hauptwörter. Na, du kannst dir vorstellen, man hatte noch keine einheitliche Grammatik für das Deutsche. Doch dann tauchte die Gleichsetzung der Hauptwörter mit den Substantiven in den Grammatiken auf. Und seither schreiben wir die Substantive groß.

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Uff, meine Liebe, wir halten jetzt. Weißt du, dass ich noch nie solche Mühe hatte, das mit der Großschreibung zu erklären? Das kommt davon, wenn man sein Blut zu sehr in Wallung setzt, so dass es überall im Körper gebraucht wird und im Kopf fehlt.

Jetzt tue nicht so unschuldig. Das mit der Geschwindigkeit und dem Übermut war ich. Doch meine Sinne hast schließlich du erregt.

Wie, du hast doch gar nichts getan? Du weißt genau, dass du nichts „tun“ musst. Das tut sich von selbst, wenn du es nur willst.

Jetzt lächelt sie wissend.

Es war schön mit dir, und ich hoffe, ich war dir heute nicht zu wüst. Doch weißt du, ich konnte nicht anders. Es ist doch noch immer Frühling oder? Ich meine, das berücksichtigst du hoffentlich in der Beurteilung meiner Reaktion auf dich.

Da guckst du ganz unschuldig.

Gut, dann gebe ich dir jetzt auch einen unschuldigen Kuss auf dein Haar. Das hast du davon.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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