Nachtschwärmer Online – Vom Herzen zur Stirn

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 22:00 Uhr

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Wenn wir von Varnenum aus hinunter nach Kornelimünster gehen, kann ich Dir unterwegs etwas Witziges erzählen. Gut fünfhundert Meter über den Feldweg, dann stoßen wir auf eine alte Dorfstraße, die übers Feld von dem Dorf Krauthausen herüberkommt.

Sag mal, findest du Karrenspuren auch so faszinierend? Wenn du wie hier drei Grasnarben siehst, links und rechts je eine schmale, und in der Mitte eine breite Grasnarbe. Dazwischen lehmig, kalkig oder sandig die Karrenspur. Machmal sammelt sich Wasser zu Pfützen.

Als Kind war ich oft allein im Feld, derweil meine Mutter dort arbeitete. Und ich habe viele Stunden damit verbracht, Kanäle zu graben, um das Wasser hin und her zu leiten. Dann stellte ich mir vor, dass dort unten kleine Königreiche wären, die mal Ebbe, mal Flut bekommen, gerade so, wie meine Wasserbau-Ingenieurleistung war. Reiche versinken, andere steigen auf, – das Glück ist eine kurze Decke, die mal hierhin, mal dahin gezogen wird. Wer freiliegt unter dem gnadenlosen Himmel, hat eben Pech. Schamanen und Druiden werden gerufen. Sie sollen die Götter beschwören, damit sie Wasser schicken oder die Fluten hemmen. Doch ich höre sie gar nicht. Sie können ihren Mummenschanz ruhig treiben, es ist mir egal. Ich mache es gerade, wie ich lustig bin.

Du siehst, meine Liebe, die Krauthausener Straße taucht in den Ort hinab. Kornelimünster liegt im Tal der Inde. Die Inde hat sich ziemlich tief in die Landschaft gefressen. Man sieht ihr ein bisschen an, wie gefräßig sie ist. Besonders im Ortskern und im Klauser Wäldchen. Später fließt sie eine Weile breit und ruhig durch Wiesen.

Wir haben eine schöne Nacht, findest du nicht? Leider hat es sich über Tag bewölkt, so dass wir auf Sternenlicht nicht hoffen können. Es wäre auch schön, du könntest bei Mondlicht einen letzten Blick auf die Mauern von Varnenum werfen.

Welche Mondphase haben wir eigentlich zur Zeit? Du als Frau müsstest es doch wissen. Angenommen, wir hätten Neumond, und du wüsstest es. Dann wäre ich jetzt besser dran als du, denn ich weiß es nicht. Ich könnte zum Nachthimmel aufschauen, die Wolkendrift beobachten und hoffen, dass der Mond sich zeigt. Wüsste ich jetzt, heute gibt es keinen Mond, könnte ich nicht hoffen.

Siehst du, deshalb ist Wissen nicht immer eine Gnade.

Doch man kann nicht alles haben. Immerhin ist die Nachtluft angenehm. Ich habe schon gedacht, ein Glück, dass sie so verfroren ist. Sonst käme sie jetzt schon in luftiger Bekleidung, die meine Sinne verwirrt. Das machst du nicht? Schade. Ich finde, es ist notwendig wie alles andere.

Ja, verwirrte Sinne zu haben, das ist manchmal ganz gesund.

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Sag mal, findest du auch, dass abschüssige Straßen irgendwie seltsam zu gehen sind? Man fühlt sich so zur Eile gedrängt. Schon taucht das Ortsschild „Kornelimünster“ auf, und schon hat uns der erste Lichtkegel der Straßenlaternen.

Guck, hier links in diesem restaurierten Bruchsteinhaus wohnt ein ehemaliger Kollege von mir. Zwei Sachen kann ich dir über ihn erzählen. Er ist schuld, dass ich Lust bekam, Schreibmaschine zu lernen, doch gelernt habe ich es nicht. Denn es kam mir ein Wissen in den Weg. Es war so, dass wir miteinander programmierten. Er half mir, ein Programm zu schreiben, mit dem ich herausfinden wollte, wie viele Varianten es gibt, ein Nikolaushaus zu zeichnen.

Das ist doch nicht komisch. Was gibt es da zu schmunzeln, bitteschön?

Das Nikolaushaus ist eine Endlosfigur. Solche Figuren haben magische Kräfte. Das jedenfalls glaubten die Alten. Die berühmteste Endlosfigur ist das Pentalpha, auch Drudenfuß oder Pentagramm genannt. Dieser Fünfstern hat einige Namen, denn er war in vielen Kulturen verbreitet. Er ist ein Glückssymbol. Stellst du das Pentagramm allerdings auf den Kopf, ist es schwarzmagisch.

Man kann das Pentagramm übrigens wie ein Kreuz schlagen. Vermutlich ist auch das sich bekreuzigen daher entlehnt.

Traust du dich, das Pentagramm zu schlagen? Oder denkst du, du bist eine Heidin, wenn du das tust? Ich kann dich beruhigen, das Pentagramm ist auch bei frühen Christen auf Amuletten gefunden worden. So ist es allenfalls Aberglaube, wenn du das Pentagramm schlägst, nicht heidnisch. Du darfst es jedoch nicht verkehrt herum schlagen, sonst fliegen uns die bösen Geister um die Ohren.

Bist du bereit? Nimm deine rechte Hand und führe sie zum Herzen. Dort beginnst du:

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Vom Herzen zur Stirn,
zur rechten Brust,
zur linken Schulter,
zur rechten Schulter,
zurück zum Herzen.

Siehst du, es ist eine Endlosfigur. Du hast sie im Raum vollzogen, hast mit der Hand dein Herz und deinen Kopf verbündet.
Als zweidimensionale Zeichenspur hat das Pentagramm die gleiche Bedeutung.

Das Nikolaushaus hat große Ähnlichkeit mit dem Pentagramm. Doch es ist schwieriger zu zeichnen, denn es gelingt nur auf eine bestimmte Weise. Es ist die verspielte Variante. Man braucht den Kopf, die Hand und ein bisschen Glück, damit sie gelingt. Eigentlich braucht man jedoch nur eine Regel zu kennen.

Jedenfalls sagte ich zu diesem Kollegen: „Wieso kannst du mit zehn Fingern schreiben?“
„Ganz einfach“, sagte er. „Ich habe mir einmal in der Stadtbibliothek ein Lehrbuch ausgeliehen und habe es gelernt.“

Verflixt, dachte ich, das kann ich auch. Ich besorgte mir ein Lehrbuch und begann zu üben. Doch du weißt ja, dass ich mich für alle Aspekte der Schrift und des Schreibens interessiere. Ich fand keine Erklärung, warum die Buchstaben so blöd angeordnet sind. Da vergaß ich mein Üben und begann in der Bibliothek zu recherchieren. Was ich herausfand, war deprimierend, du erinnerst dich vielleicht an Remingtons Coup. Ich habe einmal in einem anderen Nachtschwärmer davon erzählt. Als ich las, wie es zu dieser Anordnung gekommen war, hatte ich die Lust verloren, das Zehn-Finger-System zu lernen. Die Anordnung ist barbarisch, und das Zehn-Finger-System war es mir deshalb auch. Siehst du, deshalb steht auch nichts über die Anordnung in den Lehrbüchern. Hier ist Wissen nämlich eher schädlich, du siehst es an meinem Beispiel. Ich hatte den Kopf benutzt, wo ich nur die Hände hätte nehmen sollen.

Es ist noch weit bis in den Ortskern. Die Straße zieht sich, und die Bebauung ist bald nur noch einseitig. Dann sehen wir rechts das Klauser Wäldchen. Zwar ist es finster drüben zwischen den Bäumen, du siehst nicht viel. Doch du kannst mir auch unbesehen glauben, – der Weg zu deiner Rechten führt auf einen Felsen, und auf seinem Hochplateau liegt eine Einsiedlerklause. Daher der Name des Wäldchens. Inzwischen hat der Einsiedler Gesellschaft, Frau und Kinder, und er arbeitet außerhalb, ist vielleicht nicht einmal katholisch.

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Magst du einmal ein kleines Stück mit mir hinaufgehen? Ach komm, es ist auf dem breiten Weg weniger dunkel, als es scheint. Deine Augen gewöhnen sich daran, und dann siehst du mehr, als du erwartest.

Warum bleibst du stehen? Das war eine Eule oder ein Kauz. Manchmal fühlen sie sich vom Licht der Laternen angezogen, sitzen im Geäst und rufen.

Eine Kapelle auf dem Felsplateau erinnert noch an die vielen einsamen Vorbewohner der Klause. Das hört sich witzig an, findest du nicht? Stell dir vor, aus tiefer Vergangenheit käme eine lange Reihe von Einsiedlern auf uns zu.

Du brauchst nicht zu zucken, komm nimm meinen Arm – Es wären dann gar keine Einsiedler mehr. Es ist eine verschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Du hast Recht. Vermutlich war jeder einzelne ein kauziger Mann. Denn wer immer allein lebt, wird kauzig.

Kontemplation nennen sie ihre Aufgabe, oder? Das halte ich für eine Überhöhung. Wozu findet es einer gut, ein Kauz zu sein, wenn sein Gott ihn als Mensch geformt hat?

Na, egal, es ist nicht unsere Sache. Von der anderen Seite des Felsens führt ein Kreuzweg zur Klause hinauf. Er ist viel steiler als unser Weg.

Ein Kreuzweg scheint mir vernünftiger. Man nimmt eine Mühe auf sich, betet an den Stationen, steigt dabei den Fels hinauf und gerät in religiöse Versenkung. Anschließend fühlt man sich geläutert, und es kann wieder gelebt und menschlich empfunden werden.
Die Lebenslust, das Miteinander, Sexualität, gutes Essen, erfüllende Arbeit, künstlerische Tätigkeit und Spiel – das sind doch die Dinge, nach denen der Mensch streben muss, findest du nicht? Dafür ist er gemacht, nicht zum einsamen Hocken und Brabbeln.

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Sag mal, was mir da in den Nacken tropft, ist es das, was ich befürchte? Es regnet? Was tun wir? Komm, wir rennen hoch zur Klause, klingeln da und bitten um Unterkunft und ein Nachtmahl. Ja, ich mache Spaß. Das freie Gastrecht ist längst aus der Mode. Außerdem ist es ein lauer Regen. Du wirst sehen, er tut dir gut. Wir bummeln einfach zurück zur Straße und dann hinunter nach Knolle. So nennen die Jugendlichen ihren Ort.

Ach, jetzt, wo wir wieder auf der Straße sind. Das Nikolaushaus, ich wollte dir noch davon erzählen. Ich bekam einmal einen Zettel, worauf 34 Varianten des Nikolaushauses in den einzelnen Zeichenschritten dargestellt waren. Der Junge, dem ich den Zettel abgeluchst hatte, war also nach Versuch und Irrtum vorgegangen. Auf diese Weise ist es fast unmöglich festzustellen, wie viele Möglichkeiten es tatsächlich gibt.

Deshalb suchte ich nach einer Regel, und dann schrieben wir das Programm.
Doch ich weiß nicht, ob du die Anzahl der Möglichkeiten und die Regel überhaupt wissen willst. Denn das Nikolaushaus verliert seinen Zauber, wenn du die Regel kennst.

Jedenfalls zeige ich morgen den Zettel einmal. Der hat Zauber.

Da ist einer hingegangen und hat sich eine Aufgabe gestellt, die ihm nichts einbrachte, nur die Lust es zu tun. Das nenne ich intelligentes Spiel, du doch auch, oder?

Sieh einmal, wir geraten an den Ortskern. Du siehst hinreißend aus mit deinen nassen Wangen unter dem Licht der Laterne.

Hier verabschieden wir uns. Genau: Wir bilokalisieren wieder.

Doch warte einmal kurz.
Dein Haar duftet göttlich nach Frühling.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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