Nachtschwärmer Online – Abgelegte Dienstmützen

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 22:30 Uhr

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Du kannst dich ruhig in deiner Kapuze verstecken. Ich sehe deiner Nasenspitze an, dass du es heute gern etwas leichter hättest als gestern. Da war soviel Tempo am Anfang, und als du gedacht hast, du könntest dich innerlich zurücklehnen oder gar anlehnen, habe ich dich durch schwerwiegende Überlegungen geschleust. Doch gib zu, ich hatte dich nicht getäuscht, denn ich sagte ja, es geht hinab zwischen die schwarzen Fichten.

Heute haben wir es gut. Vor uns liegt das linde Münsterländchen.

Der Bahnhof von Raeren hat überraschend viele Gleise, findest du nicht? Raeren ist eigentlich nur ein kleiner Ort, allerdings sehr zersiedelt. Hier wurde Güterverkehr abgewickelt, denn es führt ein weiteres Gleis nach Eupen. Es gab sogar eine Drehscheibe für Lokomotiven.

Schade, dass wir das Bahnhofsgebäude nicht betreten können. Komm, wir schauen wenigstens einmal durch die trüben Scheiben in die alte Wartehalle.

Du hast Recht, zu sehen ist nix. Hier hilft nur Phantasie

Diese alten Bahnhöfe hatten einen Zauber, der inzwischen restlos verjubelt wurde. Renovierte Bahnhöfe in den großen Städten sind schnieke. Sie blitzen und blinken, locken an allen Ecken mit Geschäftslokalen und diversen Reiseverköstigungen, doch die eigentliche Dienstleistung der Bahn ist irgendwie ärmlich. Die Angestellten in den Reisecentern können sich mühen wie sie wollen. Die Struktur über ihnen stimmt nicht. Dort wird in die falsche Richtung gedacht. Bahnhöfe in der Region lassen die Börsen-Adepten veröden, und mancher kleine Bahnhof sieht aus wie dieser hier.

Ich glaube, du bist zu jung, du hast vieles nicht mehr kennengelernt. Doch sag mal, hast du eine Vorstellung von der Atmosphäre in einem alten Wartesaal?

Da saßen Reisende an weiß gedeckten Tischen.
Reisende sind nicht geschäftsmäßig und cool. Reisende sind irgendwie aufgeregt. Denn sie sind in der Fremde und wissen nicht genau, wie man sich in der Fremde zu verhalten hat. Sie sind deshalb ein wenig steifer als sonst. Und ihr Gepäck haben sie neben sich auf dem Boden, weil ihnen die Sache mit der Gepäckaufgabe zu heikel ist. Was ist, wenn sie in Zeitnot geraten, weil sie zu lange vor der Gepäckausgabe warten müssen, wo ein stoischer Beamter mit blauer Uniform und Dienstmütze sich jeden Abholzettel zuerst einmal in Ruhe beguckt, bevor er dann gemessenen Schritten ins rückwärtige Lager geht. Und der Reisende kennt schließlich die Werbung, die wie eine leise Drohung auf jedem deutschen Bahnhof hängt. Es ist ein Emailleschild. Darauf ist mit wenigen Zeichenstrichen ein Bahnsteig dargestellt. Ein Zug rollt gerade aus dem Bahnhof, man sieht nur noch die rote Laterne. Im Vordergrund ein Mann mit Koffern, der sich mit einem Taschentuch die Stirn wischt. Es ist sein Zug, der da wegfährt. Doch ihm wird Hilfe angeboten:

Der Zug ist weg,
auf diesen Schreck:
Klarer mit Speck!

Ja, und dann geht der Mann wieder in den Wartesaal zurück, der Ober mit seiner langen weißen Schürze kommt und fragt, was er denn bringen dürfe. Der Mann nimmt eine Limonade. Und der Kellner öffnet den Kronkorken der Flasche an seinem Tisch und gießt ihm ein. Da denkt der Mann: Ach, gar nicht so schlimm. So sitze ich wenigstens noch einmal in Ruhe im Kölner Wartesaal und trinke Bluna.

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Weißt du, was ich meine? Reisen war nichts Alltägliches, bevor die Hektik in die Welt kam. Und daher glaube ich, dass die Menschen ihre Fahrten auch intensiver erlebten. Der Weg ist das Ziel. Die Eisenbahnromantik zehrt noch davon.

Wenn geht es endlich los? fragst du.

Steig auf, wir fahren! Setz dich bequem, es wird eine ruhige Fahrt. Es ist nicht weit bis zum Bahnhof von Walheim. Nur zwei Kilometer hinter Raeren sehen wir die Häuser von Sief, einem ersten Ortsteil.

Eisen auf Eisen rollt sich ab.

Tock tock tock

Es ist witzig, wie sich die vielen Gleisspuren wieder vereinen, je weiter wir hinausfahren, findest du nicht? Eben dachten wir, die Gleise Richtung Osten würden uns eine Auswahl verschiedener Reiseziele lassen. Jetzt aber könnte ruhig ein vermummter Irrer die Böschung hochstürmen, die Pistole zücken und rufen: „Fahren Sie mich nach Kuba!“
Das würde ihm nichts nutzen, ich fahre heute nur nach Walheim.
Findest du schade, dass wir jetzt nicht nach Kuba können?

Gut, denn selbst dein Liebreiz würde mich jetzt nicht aus der Spur bringen.

Tock tock

Spürst du, weil leicht die Draisine rollt? Und trotzdem ist die Fahrt auf der Draisine aufregend. Wir ziehen dahin, uns führt ein Gleis, dem wir vertrauen müssen, und der Fahrtwind flüstert dir zu, dass da nichts ist zwischen dir und der schweigsamen Nacht.

Gut, dass du warm eingepackt bist, denn die Temperatur ist gegenüber gestern Nacht deutlich gesunken. Kannst dich trotzdem ein wenig an mich kuscheln, wenn dir danach ist. Ich glühe zwar nicht, doch du weißt ja, meine Finger sind immer warm.

Ist schon klar, hohe Teppichhausdirektion, die Finger lasse ich natürlich bei mir. Muss ich denn jetzt ausdrücklich sagen, dass nicht nur meine Finger warm sind, sondern auch noch die Gliedmaßen und was sonst noch zu mir gehört, abgesehen von meinem Kopf, der zwar auch zu mir gehört, jedoch eine kühle Stirn hat. Dass also die Rede von den warmen Fingern „pars pro toto“ gemeint war, indem ein Teil für das Ganze steht?

Ich mache nur Spaß, meine Liebe, da ist keiner im Gebüsch, mit dem ich stilistische Fragen erörtere. Obwohl es hübsch wäre. Stell dir vor, du wanderst fröhlich und nichts ahnend durchs Münsterländchen und an einem Wegkreuz stehen zwei gutsituierte Herren und unterhalten sich über das versunkene Dativ-e und dessen Reste in formelhaften Wendungen. Du weißt schon:
„Unser Herr Dingenskirchen ist leider nicht im Hause!“
Da hast du das Dativ-e noch im Haus(e).

Ja, du hast Recht, das Dativ-e gab der Sprache etwas Gravitätisches.
Das brauchen wir nicht mehr, weil wir ja insgesamt mit allem lässiger geworden sind.

Tocktocktock

..ich find’s gut, denn zumindest haben sich die Grenzen zwischen den Generationen geöffnet. Man kennt sie noch, doch man kann leichter hin und her als früher.

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So ist es hier im Lande übrigens auch. Irgendwo vor uns muss die deutsche Grenze sein. Man darf inzwischen hin und her, wie man will. Doch wenn wir aus dem flachen Hohlweg heraus sind, kannst du an der Straße nach Sief noch das Zollhaus sehen.

Wenn ich vor dem Fall der Grenzstationen mit dem Rennrad ins Venn fuhr, nahm ich nie einen Ausweis mit. Du weißt, früher war der Personalausweis ein graues Leinenbüchlein, das wollte ich nicht durchschwitzen. Meistens winkten die Grenzposten einen einfach durch. Doch einmal hielt mich so ein graubemützter Zöllner an.

Verflixt, dachte ich, jetzt lässt der Tuppes dich nicht ins Venn.
Er trat heran und sagte:
„Ich wollte mir nur einmal ihr Rennrad angucken. Hier kommen ständig Radsportler vorbei. Da habe ich Lust bekommen, diesen Sport auch zu versuchen. Was muss man denn ausgeben für ein solches Rad?“

Ich weiß nicht, ob er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hat. Einen Radsportler mit grauer Dienstmütze habe ich jedenfalls nie gesehen. Bald wurden auch alle Beamten von der Grenze abgezogen. Das klingt gut, nicht? Die Zollbeamten werden abgezogen, die Freiheit winkt!

Die meisten Zollhäuschen entlang der Grenze hat man belassen, so ahnt man den Grenzverlauf noch.

Tocktocktock.

Siehst du vorn das Gebäude der Blockstelle? Das sind die kalkigen Bruchsteine der Region.

Endlich weitet sich unser Blickfeld. Links der Weiler, das sind die Lichter von Sief. Das erste Haus ist das Zollhaus. Wir sind im Münsterländchen, meine Liebe. Jetzt mach dich ein bisschen fromm. Das Münsterländchen ist ein frommes Land. Es stand lange Zeit unter dem Einfluss der mächtigen Reichsabtei in Kornelimünster. Daher auch der Name Münsterländchen.

Wie artig du wirkst mit deiner warmen Kapuze. Ich kann mich leider nicht fromm machen, denn ich bin ein getaufter Heide, wenn du verstehst, was ich meine. Vom Glauben abgefallen. Nein, es ist nichts Schlimmes, denn ich bin Agnostiker. Doch hier lebten einst nur getaufte Heiden. Walheim, der Name, etymologisch steckt das Wort „welsch“ darin, was sowohl fremd- oder südländisch bedeutet, wie auch übertragen „keltisch“. Es ist das gleiche Wort wie in Walnuss, die welsche Nuss oder wie in Wallone, der ja auch eigentlich Kelte ist.

Es kann jedoch auch sein, das Walheim nach italienischen Bergleuten benannt ist, die einst ins Land kamen und in niedrigen Stollen Bleierz abgebaut haben. Es muss lange her sein, man weiß kaum noch etwas über diese Leute.

Ich glaube eher an den keltischen Ursprung des Namens. Denn ein Ortsteil von Walheim heißt Hahn. Der Hahn war ein heiliges Tier bei den Kelten. Sie opferten ihn, er war der Ersatz des Menschenopfers. Und tatsächlich hat sich in Hahn noch die Tradition des Hahnenköpfens erhalten.

Sie dürfen es inzwischen vermutlich nicht mehr. Da ist man pingelig, was indes in den Hühnerfarmen geschieht…

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Das Münsterländchen ist eine sanft gewellte Wiesenlandschaft, durchzogen von zwei Flüssen, der Itter und der Inde. Die Flussnamen sind natürlich ebenso keltischen Ursprungs.
Die alte Kulturlandschaft hat Hecken und kleine Wälder, mal siehst du Fels anstehen, einen Kalksteinbruch, alte Kalköfen, die wie sehr dicke Schornsteine wirken. Die Dörfer haben noch viele Bruchsteinhäuser. Im Feld findet man Wegkreuze und Bilderstöckchen, und am Horizont ragen Kirchtürme auf.

Die Landschaft hat etwas Ruhiges, doch sie ist gelegentlich …

Tocktocktock, was rappelt das hier so?

Die Gegend ist über die Jahrhunderte ab und zu erschüttert worden. Denn man verzeichnete schon immer Erdbeben in der Eifel, die auch im Münsterländchen Schäden anrichteten. Man kann es noch heute an den Inschriften der Erdbebenkapellen lesen.

Jetzt hätte ich dir beinah ein Ohr abgekaut, meine Liebe. Warum muss ich nur immerzu soviel reden? Na ja, wir sind im Gebiet der Kelten, und du weißt doch, sie hatten diesen Gott Ogma, den Gott der Redekunst, dessen Zunge am Ohr des Zuhörers angekettet war. Dem muss man seine Reverenz erweisen. Die Kelten führten gerne Streitreden und das gut gegebene Wort stand hoch im Kurs. An einer walisischen Universität gibt es übrigens heute noch solche öffentlichen Rededuelle, die eine rechte Volksbelustigung sind.

Streit- und Zankreden standen jedoch auch bei den Germanen hoch im Kurs. In der Edda findest du ein schönes Beispiel: „Lokis Zankreden“, kennst du das?
Ein gut gegebenes Wort ersetzte manchmal den Totschlag. Allerdings nicht immer. Der isländische Skalde Egil, ein Heldendichter, erschlug als Junge bereits seinen ersten Mann, und anschließend hat er sich hingesetzt und ein Gedicht darauf gemacht.

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Wir unterqueren jetzt die Monschauer Straße, und dann sind wir in Walheim. Das Gleis schlängelt sich gleich wieder, denn wir müssen eine Kuppe überwinden. Wir queren ruhige Wohnstraßen und sehen viele schicke Neubauten, vor deren Haustüren wir vorbeifahren. Im Ort haben sich gut gestellte Städter angesiedelt, Akademiker, Manager und Geschäftsleute. Deshalb hat Walheim auch eine belebte Einkaufsstraße. Doch Walheim selbst ist nicht so berauschend, finde ich. Hahn hingegen lohnt sich anzuschauen. Das tun wir als nächstes, wenn du wieder magst, meine Liebe.

Da ist das große Bahnhofsgebäude mit dem Signal davor, das sich nie mehr rühren wird. Es steht auf Halt. Dann wollen wir einmal gehorchen.

Und brav ins Bett gehen, natürlich in verschiedene, meine Liebe.

Doch einen Kuss auf dein Haar, darf ich dir geben, derweil die Draisine an den Bahnsteig rollt. Du warst mir wieder eine anregende Begleitung.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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