Nachtschwärmer Online – Abgefahren geträumt

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 23 Uhr

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Heute am Abend, meine Liebe, war der Himmel, wie ich ihn gerne habe. Hoch oben hatte er Zirruswolken und darunter driftende kleine Wolken. Die untergehende Sonne brach sich golden an den Wolkenkanten, – du verstehst schon, es war ein wenig Aufregung im Himmel. Die legte sich leider, als die Nacht herein brach. Doch wir werden einen freundlich wechselhaften Sternenhimmel haben.

Und die Luft ist zum Saufen. Entschuldige das Wort, doch ich bin eben nur ein Mann.
Du findest es auch, stimmt’s?

Du, ich rede jetzt mal im Konjunktiv zu dir. Es ist übrigens eine Form, die Kinder gerne im Spiel verwenden, wenn sie sich etwas vorstellen:
„Ich wäre die Mama und du wärest der Papa, und das wäre unser Haus!“

Wenn wir beide am Bahnhof von Sourbrodt die Draisine bestiegen hätten und wären losgesaust, das Rurtal hinab nach Kalterherberg, an der Flanke des Hohen Venns entlang, weiter nach Monschau wären wir gerast, – unter uns rollte sich Eisen auf Eisen ab ohne mein Zutun, wir hörten das Sirren und Tockern der Schienen. Und riefe ich Dir etwas zu, so würde es vom Fahrtwind verblasen. Nicht halten würden wir, nicht verlangsamen auf Brücken und Viadukten, denn was sollte uns passieren? Wir sind in einem Traum im Traum unterwegs, weitab von Gesetzen der Natur und Technik. Und weil es so ist, kümmern wir uns auch nicht um Haltesignale, nicht um unbeschrankte Bahnübergänge. Was scheren uns die Gefahren der realen Welt? Wir sind in einem Traum unterwegs und gegen alles gefeit, nicht wahr, meine Liebe!

„Was ich gesagt habe?!“

tocktocktocktocktock

„Wir sind in einem Traum unterwegs!!!“

Die Lichter von Monschau. Ja wuselt nur in euern Zimmern unter den Schieferdächern, steht auf, geht zu Bett, es ist uns egal. Wir sausen über eure Dächer hinweg und finden euch ausnahmsweise einfach nur pittoresk. Prächtig, eine schöne Stadt habt ihr. Wir kommen wieder, versprochen!

Tocktocktock

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„Das war Imgenbroich!“

Tocktocktock

Kontzen kann uns heute auch gestohlen bleiben. Schau, die Kirchturmuhr ist erleuchtet. Wie spät?! Was? So schnell waren wir! Die Uhr kommt nicht mit, siehst du das?

Tocktocktock

Schon fliegen wir ins Hatzevenn.
Ach, es war schön dort oben im Venn, nicht wahr?
Das Hatzevenn gibt uns einen letzten Eindruck.
Ob das Gras im Venn schon grünt, fragst du?
Ja, ich gaube, unter dem gelben Altgras zeigen sich die frischen Halme. Ich sah heute übrigens … im Mergelland drüben in den Niederlanden, sah ich tatsächlich Kühe auf fetten Wiesen grasen.
Ja, und hier kommt auch der Frühling. Das wird ein Zwitschern und Pfeifen in den Büschen sein, ein Sirren und Summen über den Moorflächen. Ach, und die kleinen Blüten, die sich aus dem Gras recken.

Tocktocktocktco

Wir sind ein wenig langsamer geworden. Eben dachte ich noch: dir weht es die Kapuze vom Kopf, meine Liebe. Doch du hast sie vorne zugehalten.

Lammersdorf

Tocktocktockttocktocktock

Wir werden wieder schneller. Gleich geht es hinunter zwischen die schwarzen Fichten. Keine Sorge, es gibt eine Schneise. Sie tut sich rechtzeitig vor uns auf. Das Gleis ist auch weniger steil als du vielleicht befürchtest. Wir fahren in sanften Schleifen ins Münsterländchen hinab.

Zügig geht es, doch wir können uns dabei unterhalten. Du kannst dich auch einfach anlehnen und hörst kaum hin, lässt dich einfach gleiten.

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Bist du ein bisschen müde? Du meinst Frühjahrsmüdigeit? Ja, die spüre ich auch. Doch heute habe ich gedacht, es ist plausibel, sie zu haben. Der Körper wird zur Zeit umgebaut für die wärmeren Tage, die da kommen. Er muss auf das schnellere Fließen der Säfte eingestellt werden, und das Winterzeug muss raus. Und man kann sich ja kein Schild „Wegen Umbaus geschlossen“ umhängen. Alles muss trotzdem weiter gehen. Also ist es doch verständlich, dass man in einer solchen Umbruchphase müde ist.

Tocktocktock

Wir vergessen oft, dass wir Naturwesen sind. Das gilt nicht nur für die Umstellung im Frühling. Da folgt man nur dem Jahreszyklus. Doch man selbst hat auch einen Zyklus: Aufrichten, Stehen, Voranschreiten. Und danach kommen die persönlichen „Winterpausen“ zur Regeneration.

Weißt du, was ich glaube? Vieles, was uns widerfährt, hat gar nichts mit unserem Denken, Reden und Handeln zu tun. Es gibt in jedem Leben zyklische Schwingungen, denn wir sind Wesen der Natur, in der alles schwingt. Manchmal mag man denken, man habe mit dieser oder jener Handlung, diesem oder jedem Wort den Dingen die entscheidende Wendung gegeben, zum Guten oder zum Schlechten.

Über die guten Wendungen denkt man nicht viel nach. Doch wendet sich das Leben wie gegen dich, versuchst du zu ergründen, wieso es geschieht. Man hat einen Fehler gemacht, denkt man und kann ihn sich auch benennen.

Doch gab dieser Fehler wirklich den Ausschlag?

Vielleicht führte man nur etwas aus, was sich aus dem Zyklus des eigenen Lebens zwangsläufig ergab. Natürlich kann man sich mit dieser These nicht herausreden, wenn man einem anderen Menschen Schaden zufügt.

Sag mal, hast du schon einmal eine Lebenskrise erlebt?
Es geschieht vielen Menschen zum Beispiel durch eine unglückliche Beziehung.

Angenommen, du selbst weißt um deine Grenzen, weißt mit dir umzugehen, weißt um die Grenzen deines Partners und verstehst auch sie zu nehmen – trotzdem könnte es geschehen, dass man sich irgendwann voneinander entfernt. Denn es ist ja der Drang zum Wachstum im Menschen. Und die Menschen wachsen unterschiedlich schnell. In einer harmonischen Beziehung stimmt der Zyklus überein. Ihr Wachstum passt sich an. Dann geht es still zu bei ihnen, irgendwie lind, Höhen und Tiefen erscheinen nur noch als sanft gewellte Landschaft.

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Wo dieser Einklang sich nicht einstellen mag, wird es schwierig. Einer bleibt stehen, der andere geht weiter – man kann auch in unterschiedliche Richtungen wachsen.
… Wir haben sprachliche Wendungen für diesen Vorgang: „Wir haben uns voneinander entfernt“, „… auseinander gelebt“ oder „wir sind uns fremd geworden“…

tocktocktock

Das war die letzte Kehre. Man hat sie kaum gespürt, weil das Gleis so einen großen Bogen durch den Wald zieht.

In einer Krise ist es hilfreich, die Tatsache anzunehmen, dass man ein Naturwesen ist und natürlichen Gesetzen unterworfen. Man kann dann gelegentlich von außen auf sich schauen und sagen: „Ach, jetzt bist du wieder ganz traurig, du armes Menschenkind. Ich habe dich ja nicht gemacht. Bei der menschlichen Konstruktion bin ich nicht gefragt worden. Wenn’s nach mir ginge, hätte ich eine Reihe Verbesserungsvorschläge. Wo zum Beispiel, Herr Schöpfer, ist der Knopf, um Schmerz und Kummer auszuschalten? Der fehlt, das kann ich dir versichern.“

Denkst du nicht auch, dass wir eine solche Möglichkeit haben, den Schmerz zu mildern, Kummer auszuschalten? Ja, denn der Mensch ist eine ideale Konstruktion. Er ist eben nicht nur zuckendes Gefühl. Er hat einen Geist und seine Hände. Und damit kann er unglaubliche Dinge tun. Allerdings muss dieses Geschick des Geistes und der Hände gefördert werden. Man muss beides durch fleißigen Gebrauch stärken. Irgendwann folgt das Herz wieder nach. Und weil Geist und Hände erstarkt sind, können sie dem Herz helfen, wieder an Bord zu kommen.

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Deshalb finden viele Menschen Halt in der künstlerischen Aneignung der Welt. Das Auge entdeckt, schaut, betrachtet und ordnet zu, die Hände bringen es zu Papier, auf eine Leinwand, in eine Musik, in Literatur,…Und weil da etwas entsteht, was in dieser Weise vorher nicht in der Welt gewesen ist, wird das Herz natürlich neugierig. Es wendet sich ab vom Kummer und kommt dazu, um sich das künstlerische Ergebnis anzuschauen. Da hast du einen Abschaltknopf für Schmerz und Kummer.
Ja, du hast recht, in den Garten zu gehen, funktioniert auch.

Willst du einen Tag glücklich sein, dann liebe eine Frau,
willst du ein Jahr glücklich sein, dann heirate.
Willst du ein Leben lang glücklich sein, gehe in den Garten.

Ein chinesisches Sprichwort.

Im Garten findet der Mensch zu sich, wie auch in der Kunst, im absichtslosen Spiel, im sozialen Engagement… Und ein Mensch bei sich ist ziemlich gefeit vor den Imponderabilien des Lebens, findest du nicht?
Menschen, die auf gesunde Weise bei sich sind, kann man gut um sich haben.

Siehst du, meine Liebe, der düstere Wald lichtet sich. Unsere Fahrt endet gleich. Wir nähern uns einer Weiche, das Gleis spaltet sich auf zu vielen Spuren. Sie gehören zum Bahnhof von Raeren. Von hier sind wir gestartet. Und vom Bahnsteig des Raerener Bahnhofs werde ich dich morgen wieder abholen. Wir fahren weiter ins Münsterländchen, über Walheim nach Kornelimünster. Du wirst sehen, es ist eine schöne Gegend, und Kornelimünster ist ein interessantes Städtchen, das ich gut kenne.

Für heute verabschieden wir uns, wenn es mir auch schwer fällt. Doch denke dir nichts dabei. Das liegt nur an der Frühjahrsmüdigkeit. Denn wir sind zurück in den Frühling gefahren, der hier unten schon deutlich weiter ist als im Hohen Venn.

Der Kuss auf dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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