Nachtschwärmer Online – Einatmen und Ausatmen

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 22:30 Uhr

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Du denkst vielleicht, meine Liebe, dass ich viel rede. Doch ich würde auch gern einmal mit dir schweigen. Wie aber soll das gehen? Ich würde aus deinen Augen verschwinden, mich drüben im Dämmer der Hecken verlieren.

Darum hörst du meine Stimme, auch wenn ich lieber schweigen will.
Warum soll ich immerzu die Welt erklären? Wozu ist es gut?
Letzten Endes muss jeder sich die Welt selbst erklären.

Warum eigentlich?

Das nächtliche Raubtier auf der Lauer, es muss sich die Welt nicht erklären. Und die Maus in seinen Fängen erklärt sie sich auch nicht. Sie macht sich starr und ergibt sich einfach.

Das Bild war zu duster, verzeih.

Heute sah ich unterwegs die beginnende Kirschblüte. Welch eine rosafarbene Pracht bietet ein blühender Kirschbaum.

Was erweckt den Kirschbaum aus seinem winterlichen Schlaf und lässt ihn Blüten treiben? Ob wohl ein Kirschbaum die Lust des Frühlings spürt? Wie ist ihm, wenn der laue Frühlingswind durch seine Zweige streicht? Empfindet er Glück, wenn die Insekten sich seinen Blüten nähern? Warum sonst sollte er sie so prunkvoll locken?

Was lässt dich am Morgen erwachen? Der Wecker, ja. Doch wenn du ihn nicht hast?
Ich kann mir vornehmen, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erwachen. Wieso kann ich das?

Und was ist es, dass die Menschen sich einander zuneigen lässt?
Wieso kannst du mich bezaubern? Welche geheimen Kräfte wirken auf mich ein?

Wir wissen eigentlich gar nichts.

So können wir auch einfach in den Tag leben. Keine Gedanken höherer Ordnung. Hinweg mit ihnen. Fragen, auf die es in dieser Welt keine Antwort gib, warum sollte ich sie weiter stellen?

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Du hast Recht. Das Leben gibt versteckte Antworten. Du zum Beispiel bist eine versteckte Antwort an mich. Warum sind wir uns begegnet und haben den Kontakt gesucht? Wir erhoffen voneinander eine Antwort.

Es gibt auch weniger komplexe Bereiche als der liebe Mensch, in denen man eine Antwort findet. Ich habe es viele Jahre so gehalten. Antworten habe ich im Schauen auf die kleinen Dinge gefunden. Zuerst habe ich mich gefragt, ob wohl in meinen Kopf nur kleine Dinge passen. Dann habe ich erkannt, dass in kleinen Dingen große Antworten stecken.

Doch ich habe auch in mich geschaut.

Man kann Antworten in sich hören, stimmt’s? Wenn man selten hinhört, ist diese Stimme schwach. Doch je mehr Beachtung man ihr schenkt, desto kräftiger spricht sie. Geht es dir auch so, das du in Zeiten starker innerer Achtung sogar Hinweise aus der Welt draußen bekommst?

Manchmal denke ich einen unnützen oder dummen Gedanken, erwäge Dinge, die ich nicht erwägen sollte, und prompt fliegt mir von irgendwo ein Partikel ins Auge und schmerzt.
Heute war es ein Hindernis auf meinem Weg. Es war ein schöner Weg, auf halber Höhe einer Flanke entlang. Rechts der gegen den Himmel aufsteigende Wald, links eine sanft gewellte Wiesenlandschaft. Weiter hinten eine stumpfkegelförmige alte Halde. In der Ferne Dörfer und am Horizont eine großes Kraftwerk, zu sehen an mächtigen Kühltürmen, den Wolkenmaschinen unserer Zeit. Ein blauer Himmel, ergrünende Hecken längs des Wegs. Der Weg fiel ab, und der Rückenwind schob mich. Ich sauste zu Tal.

Plötzlich begann es in mir zu denken. Ich hatte keinen Anlass dazu, wollte nur der rasch bewegte Mensch in dieser Landschaft sein. Doch etwas in der Landschaft löste den Gedanken aus. Es war ein müßiger Gedanke, einer wie ins Bushofklo gefasst, so ein Gedanke war das. Doch ich schenkte ihm Beachtung.

Im nächsten Augenblick sah ich mich stürzen.

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Unter dem Vorderrad tat sich ein tiefes Schlagloch auf, ein großer Frostschaden im Asphalt. Da verscheuchte ich den Gedanken und war wieder ganz bei mir. Mein Gewicht verlagerte sich ein wenig. Und mein Rad glitt an der Kante des Schlaglochs entlang, dass ich es bröckeln hörte. Dann war ich vorbei.

Ich sage Dir, meine Liebe, das war eine laute Antwort der Welt an mich gewesen. Und weißt du, wie ich auf diese laute Antwort reagiert habe? Intuitiv. Da war keine Zeit für die Handlungsanweisung: „Den Lenker nicht verreißen, nicht bremsen, nur ein wenig das Gewicht verlagern!“ Es tat sich einfach.

Du weißt, was ich damit sagen will. Hören wir die innere Stimme, können wir das Richtige tun, ohne darüber nachzudenken. Das ist doch hübsch, findest du nicht?

Im Sternenhimmel über uns allerdings finde ich keine Antwort. Er offenbart mir nur eine einzige große Frage. Geht es dir nicht ähnlich? Schau einmal hinauf. Man erschaudert, oder?
Da oben ist kein Menschenmaß. Zu gewaltig, nicht fassbar. Sterne und Galaxien rasen durchs All. Käme ihr Tosen an ein menschliches Ohr, würde der gewaltige Klang ihn zerschmettern.
Das ist keine Kraft, mit der Menschen sich messen dürfen.

Bemessen, du hast recht, das können wir. Im Messen ist der Mensch allen Dingen der Welt überlegen. Ob es Sinn hat oder nicht, der Mensch misst. Dazu hat er die gewaltige Mathematik.

Man kann sie anbeten. In ihren oberen Regionen scheint sie sich im Göttlichen zu verlieren.

Doch die Anbetung der niedrigen Regionen der Mathematik ist Götzendienst: Statistik, zum Beispiel, was kann man für einen Schindluder mit ihr treiben. Ach, und die simpelste Mathematik beten wir Computernutzer an. Sie beruht nur auf eins und null.

Magst du noch ein wenig mit mir durch die Nacht gehen?

Hinter der Heckenbiegung erwartet uns ein Fünfsprung. Da führen Wege in den Wald, Wege ins Venn, ein Weg mag zu einer Ortschaft führen, einer verliert sich im Moor …
Wohin sollen wir uns wenden?

Ja, ich sollte mich hier auskennen, wenn ich dich schon durch die finstere Einsamkeit schleppe. Fühlst du dich geschleppt, meine Liebe? Dann kehren wir um.

Du vertraust dich meiner Führung an?

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Gut, dann weiß ich, was ich tue. Uns wird es nicht ergehen wie den Verlobten, die man irgendwo weiter nördlich tot beieinander fand. Man muss uns kein Gedenkkreuz errichten. Nein, wir gehen nur wenige Schritte. Wir schauen uns den Weg nur einmal an, um uns zu orientieren.

Wie findest du den hellen Weg, der uns zwischen die Gräser führt?

Dort haben wir einen weiten Horizont und können uns unterm Mondlicht orientieren.
Man sieht den Mond fast halb, – es ist abnehmender Mond, nicht wahr?

Ist der Mond wirklich der Himmelskörper der Frauen, sag mal?

Ein wenig weiß ich darüber. Denn ich kannte einmal eine Frau, die das Mondspiel spielte.

Anderes Thema: Hast du eigentlich die Schlagzeile der Bild gelesen:

„Rettet uns der Liebesplanet?“

Wie besoffen muss man eigentlich sein, sich diese Schlagzeile auszudenken?
Zur Zeit umkreist doch ein Satellit die Venus und erforscht deren Atmosphäre. Und eventuell lassen sich aus den Daten, die er sendet, Rückschlüsse auf die Klimaveränderung der Erde schließen. Hab ich es richtig erklärt?

Diese Personifizierung finde ich witzig. Als schwebe im All ein liebender Aufpasser für die Menschen herum, der bereit ist, uns von unserer eigenen Dummheit zu erretten.

Dann sollte man schon einmal damit anfangen, die Venus anzubeten, findest du nicht?
„Heilige Venus, o Liebesplanet, bitte errette uns!“

Das Mondspiel? Nichts Besonderes.

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Das Mondspiel folgt den Phasen der Abstoßung und Anziehung, einatmen, ausatmen, du weißt schon. Bei manchen Menschen sind diese Phasen heftig.

Goethe dachte sich die Erde als Organismus. Ich dachte sofort an eine Landschaft wie das Hohe Venn, als ich seine Erklärung für die Hochs und Tiefs in der Atmosphäre las. Ich habe es nicht wörtlich präsent, doch es geht etwa so: Goethe sagt, wenn der Organismus Erde ausatmet, verneint er das Wasser. Das ist das Hoch. Dann wieder ist die Erde wasserbejahend, sie atmet ein, wir bekommen ein Wettertief.

Keine Sorge, die Erde atmete heute über Tag aus, und falls sie es sich in dieser Nacht anders überlegen will, sind wir längst weg. Wir gehen jetzt zurück zum Bahnhof von Sourbrodt.
So schön es hier ist, es ist auch zu Hause schön.

Es war ein seltsamer Bummel, sagst du? Ja, mir war heute Abend schon seltsam. Ich hoffe, du hast dich trotzdem ein wenig unterhalten.

Kannst ja eine Beschwerde an die Teppichhaus-Direktion richten.

Ich weiß noch gar nicht, wie es weitergeht, meine Liebe. Es gibt so viele Gleise in der Welt. Mal sehen, wo wir uns wieder treffen. Ob es hier am alten Bahnhof von Sourbrodt ist oder sonst wo.

Für heute sagen wir uns jedenfalls Tschüs.

Du warst eine wunderbare Begleiterin.
Gegensätze ziehen sich eben an 😉
Schlag einmal kurz die Kapuze zurück, ja?
Der Kuss auf dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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