Nachtschwärmer Online – Vals platt

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 23 Uhr

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Da bist du ja! Ich bin froh, dass du wieder mitkommst. Man weiß es nie. Frauen sind wetterwendische Wesen. Und gestern Nacht ist dir vielleicht ein bisschen kalt geworden.
Nicht schlimm?

Heute ist die Luft milder.

Der Himmel sieht aus, als hätte den Pinsel für die Wolken ein Praktikant geführt. Man kriegt gar keinen Kopf daran, findest du nicht? Eventuell klart es ja später auf. Es wäre schön, wenn wir ein wenig Sternenlicht im Moor hätten.

EisenaufEisenrolltsichab

„Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es muss zügig gehen, wenn wir bis ins belgische Sourbrodt kommen wollen. Dort gibt es einen stattlichen Bahnhof, wo ich dich heute pünktlich abliefern will!“

Dein Haar! Du solltest die Kapuze aufsetzen. Sonst bist du am Ende vom Fahrtwind zerzaust, und ich bekomme wieder Ärger mit der Teppichhausdirektion. Dann tun sie so, als hätte ich mit den Fingern in deinem Haar herumhantiert. Als ob ich das so machen würde – jedenfalls nicht nur so.

Das war nur ein Spaß, meine Liebe. Hör einfach weg, wenn ich solche Sachen sage.
Du hörst nie weg? Dann ist es deine Sache.

Tocktocktock

Kalterherberg ist Grenzort. Früher hätte man uns nicht so einfach fahren lassen. Denn wir überqueren jetzt bald die Grenze, und dort war früher eine Zollstation. Da ist auch eine Möglichkeit für die Züge zu queren. Deshalb wird es gleich ein bisschen rappeln.

Mach dich bereit, wir überfahren die Grenze zum Königreich Belgien.

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Bist du schon einmal in Belgien gewesen? Ich finde, das Land hat etwas Schweres. Und im Schweren sind heitere Tupfen. Belgien hat Naturschönheit und schreckliche Brachen. Prächtige Städte und elende Straßenorte. Kunst und Literatur mit Kraft und Witz sowie elenden Kitsch. Lauter solche Gegensätze …

Tocktocktock
Tocktocktock
Tocktocktock

Gut, die Reise ins Ausland beginnt. Wusstest du, dass Ausland eigentlich einmal das gleiche wie Elend bedeutete? Na, ins Elend fahren wir nicht. Denn in Wahrheit sind wir schon die ganze Zeit im Ausland. Du weißt doch, die gesamte Bahnstrecke gehört zu Belgien.

Magst du einmal einen Traum hören?

Ich stieg eine Allee zwischen hohen Hausreihen hinauf. Ganz oben am Schluss der Allee wusste ich eine große neugotische Kirche, in der ich schon gewesen war. Dort fand ich jedoch nur noch einen glatt asphaltierten Platz. Die Kirche war spurlos verschwunden. Nur an einer Stelle war ein Streifen zu sehen, wo vielleicht eine Mauer gelastet hatte. Der Platz, nun der Kirche ledig, schien mir jetzt viel kleiner als zuvor. Wo aber war die Kirche abgeblieben? Da kam niemand, den ich fragen konnte.

Tocktocktock

Tock tock

Das Hohe Venn ist eine Hochmoorlandschaft. Sie ist bei jedem Wetter aufregend schön. Du kannst jetzt bei Nacht nur etwas davon ahnen.
Übrigens darf man auch bei Tag nicht überall hin. Das ganze Venn ist in Zonen von A bis D eingeteilt. In die Zone D darf niemand. Es ist nicht nur wegen der seltenen Pflanzen. Hier wächst zum Beispiel das in Nordeuropa seltene Knabenkraut. Es ist eine Orchideenart, wie du weißt. Nein, das Moor ist auch an vielen Stellen gefährlich. Man kann natürlich noch immer darin versinken.

Was der Traum sollte? Nur so. Er hatte ein wenig Ähnlichkeit mit einer Sache, die ich übers Venn gelesen habe.

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Die Geologen haben einen anderen Namen für diese Gegend: „das Massiv von Stavelot“. Siehst du hier ein Gebirgsmassiv, meine Liebe? Ein Massiv müsste sich doch gegen den Nachthimmel abheben. Tausend Meter hohe felsige Klippen. Das ist ein Massiv, oder?

Tocktocktock

Ein solches Gebirgsmassiv hätten wir in grauer Vorzeit gegen den Nachthimmel gesehen. Einst ragte es hier auf. Ob es von der Erosion angetragen wurde, was meinst Du? Es muss unfassbar lange gedauert haben, bis nur noch die Reste übrig geblieben sind, über die Millionen Jahre später eine Gleisstrecke geführt wurde. Auf den Resten des Massivs steht das Venn-Moor. Das Regenwasser staut sich und bildet Tümpel und Wasserwiesen und Moorlöcher. Doch an den Rändern sickert das Wasser ab, taucht unter Grasnarben, taucht wieder auf, um irgendwann zu einem klaren Bachlauf zu werden. Manchmal siehst du Schaumkronen auf dem Wasser. Sie treiben in Flocken an dir vorbei. Keine Angst, da waren keine juxigen Burschenschaftler auf Kegeltour unterwegs, besoffen auf einem Planwagen und im Gepäck eine Packung Waschpulver.
Es sind Algen, die diesen Schaum produzieren.

Wo die Hänge des Vennsattels steiler sind, werden aus den Rinnsalen stürzende Bäche. Du siehst kleine Wasserfälle, und von überall am Hang plätschert und rinnt es herab. Einen dieser Wasserfälle bin ich einmal hinaufgestiegen. Ich dachte, ich bin gleich oben, doch hinter der ersten Kuppe ging es weiter und weiter hinauf.

Irgendwann habe ich wieder umgedreht.

Man kann auch nicht genau sagen, wo die Weser entspringt. Dort irgendwo im Moor, doch welches der vielen Rinnsale willst du Weser nennen. Weiter unten füllt die Weser eine Talsperre. Sie versorgt zuerst einmal die Stadt Eupen mit Trinkwasser. Hinter Eupen wird der Fluss französisch angesprochen: Vesdre. Die Vesdre strebt der Maas zu und schneidet dabei ein immer tiefer werdendes Tal, bis sie bei Lüttich die Maas erreicht. Einst gab es auch an der Weser blühende Industrien, Tuch-, Stahl- und Waffen. Die Stadt Verviers ist dadurch reich geworden. Man sieht dort die alte Größe.

Das hätte sich ein Aufständischer in Indochina wohl niemals denken können, dass die Kugel, die ihm das Bein zerfetzte, von der belgischen Vesdre kam.

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Verzeih, meine Liebe, ich bin ein wenig abgedriftet.

Es ist einsam hier, man sieht nirgendwo Licht. Hast du ein bisschen Licht in deinem Herzen?
Das ist gut, dann gleichen wir die Dunkelheit aus.

Tock tock tock

Du bist hoffentlich gut eingepackt, und dir ist warm. Ich müsste mich mehr um dich kümmern. Warte nur, bis die Strecke ein wenig bequemer wird. Sie ist hier „vals platt“, wie es im Flämischen heißt. „Schiefe Ebene“ ist das bei uns, doch es gefällt mir nicht so gut.
Wir fahren am Oberlauf der Rur entlang. Wenn es zwischendurch einmal aufklart, können wir ihre schlanken Windungen durch die Wiesen sehen.

Vals platt ist immer schwer zu fahren. Man merkt kaum, dass es bergauf geht und wundert sich, warum man nicht gut vorankommt. Der Mensch neigt bei vals platt dazu, an seinen Kräften zu zweifeln. Dabei hat er mit der Sache überhaupt nichts zu tun.

Das kennst du doch aus dem Alltag. Man tut die Dinge wie immer, und trotzdem gehen sie einem schwer von der Hand. Manchmal sind die Verhältnisse eben unmerklich schwierig. Es ist wichtig, dass man es berücksichtigt. Nur so kann man sich auch den Druck nehmen, wenn es einmal nicht so rollt im Leben ohne eigenes Verschulden.

Tock tock tock

Sich abzulenken ist gut. Beim Radfahren kann ich es. Wenn ich Lust bekomme zu gucken oder zu denken, dann vergesse ich rasch, dass es gerade nicht so gut rollt. Hier im Venn ist es auch einfach, sich abzulenken. Es zieht dich so rasch in deinen Bann, dass du alles vergisst. Allerdings muss man richtig gucken.
„Do musste met de Oore loure“, sagt man im Rheinland. Wie die genaue Orthographie ist, weiß ich gerade nicht. Es ist ja eine Mundart und keine Schriftsprache. Siehst du, wenn ich über solche Dinge nachdenke, vergesse ich auch, dass es nicht rollt. Doch weißt du, wie ich es mir am leichtesten machen kann?

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Tocktocktock

Ich gucke einfach dich an!

Im Augenblick liegt dein Gesicht im Schatten der Kapuze. Es macht jedoch nichts. Man muss von dir nur einen Zipfel sehen. Schon ist es passiert, vals platt ist weg, und es rollt wunderbar. Und außerdem sehe ich deinen Umriss. An schönen Körperlinien kann ich mich ziemlich erfreuen. Ich weiß nicht, wieso, man hat mich ja nicht informiert, als man mich so gebaut in die Welt geschickt hat.

Wie schön wäre es, wenn man bei seiner Geburt eine Bedienungsanleitung für sich selbst mitbekäme. Das wäre doch nobel vom Herrn Schöpfer, findest du nicht?

Manche hätten auch gern für ihren Partner eine Bedienungsanleitung. Doch er hat ja nicht einmal eine für sich.

Tock tock

Links von uns, da zwischen den Bäumen, liegt das große Militärgelände Camp Elsenborn. Wir rollen schon eine Weile daran vorbei. Es ist ein ausgedehntes Wald und Heidegebiet, das früher als militärisches Übungsgelände diente. Da wurde viel geballert. Die Menschen der Gegend hatten einiges zu erleiden.

Es ist eben nicht alles heiter in der Welt. Wo geballert wird, hilft auch der schönste Teppichhaustrick nicht.

Soll ich dir etwas sagen? Die Gleiszeichen und Signale an der Strecke dagegen sind frohe Boten. Bald erreichen wir den Bahnhof von Sourbrodt.

Tocktocktock
Tocktock
Tock

Die Fahrt war ziemlich lang, es tut mir leid. Es ließ sich nicht verhindern. Wir konnten uns ja nicht mitten im Venn voneinander verabschieden.

Allerdings mag ich mich jetzt auch nicht trennen. Es ist so schön an deiner Seite.
Leider muss es sein, und was man nicht gern tut, soll man rasch tun.

Darum, der Abschied.

Ein Kuss auf Dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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