Nachtschwärmer Online – Vergessene Gleise

Fünf Etappen
Schlusskorrektur gegen 23 Uhr

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Ein seltsames Gespräch hielt mich auf, eines mit mir selbst.
Willst Du hören, wie es ging?

„Du bist aufgewühlt!“
Ich bin aufgewühlt.
„Du brauchst Sammlung!“
Ich muss mich sammeln.

Doch wie konnte ich das, frage ich jetzt einmal dich, liebreizende Begleiterin. Wusste ich nicht vorher, dass du hier am alten Bahnhof von Monschau auf mich wartest?

Ja, und guck mich einmal an. Ich bin doch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Glaubst du, ich hätte mir mit den Jahren etwa ungefähr irgendwie 33 Charakterschalen zugelegt, dass man mich erst aufschälen müsste wie eine Zwiebel, um an mein Herz zu rühren?

Ach, die hehre Teppichhausdirektion mischt sich wieder ein. Ich solle mich auf meine Aufgabe konzentrieren und sonst nichts.

Dann will ich auch darauf hören. Bist du bereit, meine Liebe, einem Gleis zu folgen, das niemand mehr befährt? Das Gleis, das sich vor dir im Dunkeln verliert? Es ist eine Sorte kultureller Snobismus, du weißt, was ich meine. Denn im direkten Sinne ist es absichtsloses Tun, ein Spiel nur, ein Zeitvertreib, nichts weiter.

Heute werden wir durch die Nacht reisen. Auf einem vergessenen Gleis fahren wir und kümmern uns nicht um die übrige Welt. Wie wundersam ist es doch, vergessene Gleise zu nehmen und versunkene Welten zu finden, die einst so lebendig und blutvoll waren die unsere.

Ja, du hast Recht. Es gibt unzählige davon, man muss sie nur zu finden wissen.

Eisen auf Eisen rollt sich ab.

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„Sitzt du gut, fühlst dich sicher!“
Rück ruhig näher, wenn dir danach ist.

Tock tock tock

Tock tock

Manchmal, meine Liebe, hörte ich Leute zu mir sagen: „Sie haben noch Ideale!“

Es klang mir stets wie: „Du trägst noch Sockenhalter!“ Dabei sollte ich doch längst wissen, dass Socken auch ohne Halter halten. Aber insgeheim blickten sie auf die Zeit zurück, in der sie selbst Sockenhalter für unentbehrlich hielten. O schöne Jugend, o herbe Gegenwart, in der man die Socken ganz alleine tragen muss.

Ich kann darüber nur lachen. Das Gleis der Ideale – sind die Schienen etwa entfernt worden? Hat man gar den Gleiskörper abgeräumt? Wird es am Ende demnächst noch zugeschaufelt, um die letzten Spuren zu beseitigen? Nichts da, das Gleis liegt noch. Allerdings ein bisschen zugewachsen wie unsres hier.

Sollen sie doch ihr flaches Leben auf den Autobahnen des globalen Irrsinns verbringen. Ist es mein Problem? Denn wenn sie keine Ideale mehr haben, so ist auch keine Glut mehr in ihren Herzen. Und wenn sie keine Leidenschaft in sich spüren, dann wissen sie auch nicht, was innere Sammlung ist. Ihre Lust ist verzehrend und ihre Entspannung ist die Schale Erdnüsse auf dem Beistelltisch vor dem Fernsehgerät.

Tock tock.

Tock tock.

Ich weiß, es gibt graduelle Abstufungen.

„Spürst du den Fahrtwind?! Flattert Deine Kapuze?! Ja, heute fahren wir schnell. Denn wir wollen sie spüren, die Begeisterung!“

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Ich will dich nicht schrecken. Denn ich weiß, du denkst an Brücken und Viadukte, deren Zustand wir nicht kennen, denn jetzt geht es hinauf nach Kalterherberg. Dort oben erst, du wirst es spüren, wenn wir den Wald verlassen und die Hochfläche durchqueren, dann werden wir richtigen Wind haben. Er bläst uns von rechts an, von Westen. Dieser Westwind kommt vom Atlantik. Er türmt hier die Wolken nicht mehr ganz so schön wie im flämischen Belgien, so wie du es von Bildern der flämischen Meister kennst. Hier ist der Wind rauh und geht tiefer übers Land. Die Leute in Kalterherberg müssen sich mit diesen hohen Buchenhecken vor ihm schützen.

Hörst du die Musik der Räder auf den Schienen? Das Tocktock, der Nahtstellen?!

Wir sprachen doch gestern über Musik und wie sie uns zu berühren vermag. Was meinst du, wie müsste sie klingen, um unsere Fahrt zu untermalen?
Sie müsste verhalten beginnen, und nähern wir uns dem Viadukt, würde sich die Musik erheben.

Sag mal, ist es nicht so, dass nicht nur der Film etwas Neues in die Wahrnehmung der Menschen brachte, sondern auch die untermalende Filmmusik? In den Anfängen saß ein Pianist vor der Leinwand. Er spielte vielleicht schlecht, doch er versuchte, den lebendigen Bildern ein Element hinzuzufügen, das den Menschen half, die filmischen Sehgewohnheiten zu entwickeln.

Und wie der Film einen dramaturgischen Spannungsbogen hat, getaktet von Intervallen kleinerer Bögen, so muss auch die Filmmusik sein, ist doch so, oder?

Tock tock tock

Wir nähern uns dem Viadukt am Ortsende von Monschau. Keine Sorge, wir fahren langsamer. Wir wollen uns vorsichtig über den Abgrund bewegen.

Weißt du, was ich letztens gedacht habe? Man sieht keine alten Straßenspiele mehr. Auf den Eifeldörfern ist es vielleicht noch anders.

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Es gibt Zeiten im Jahr, in denen Kinder wie aus heiterem Himmel bestimmte Spiele wieder entdecken. Fast seuchenhaft ansteckend tauchen sie plötzlich auf. Es hat eine besondere Bewandtnis damit. Ich habe einmal gelesen, im Kinderspiel hätten sich Reste uralter Mysterienspiele erhalten. Das Auftreten dieser Spiele ist deshalb nicht zufällig. Es entspricht atavistischen Trieben, die im engen Zusammenhang mit Frühjahrsriten und Maikulten stehen.

Das ist doch verrückt oder?
Zum Beispiel die Einteilung des Hüpfekästchenspiels nach Himmel und Hölle und den Stationen, angeblich ist sie aus dem antiken Mithraskult entstanden.

Wenn es stimmt, dann sehen wir ein vergessenes Gleis. Es führt über die Generationen der Kinder hinweg in tiefe Vergangenheit. Und weil es Kinder sind, die das Gleis betreiben, hat sich alles über die Jahrhunderte hinweg verharmlost. In grauer Vorzeit mag es einen blutigen Kult gegeben haben. Doch die Kinder haben den Kult zum Spiel gemildert.

Tocktocktock
Tocktock

Ach, die Brücke haben wir übrigens gerade unter uns. Du merkst gar nicht, wie hoch wir sind, stimmts?

Bist du selbst in deiner Kindheit einmal erfasst worden?
Du bist hinausgelaufen in einen Frühlingstag und hast die Idee eines Spiels aus der Luft erhascht?

Ich kenne es noch vom Murmelspiel. Man grub mit dem Fußabsatz eine Mulde in den Weg. Und dann kamen sie angelaufen und trugen Murmelsäckchen aus Stoff mit sich. Ganz zu Anfang meiner Erinnerung gab es noch die Murmel aus lackiertem Ton. Doch sie galt als verächtlich. Die Glasmurmel hatte ihr den Rang abgelaufen.

Ja, du hast Recht, Mädchen spielten dieses Spiel eher nicht. Dann hast du also Hüpfekästchen auf den Weg gemalt? Du warst eine kleine Hohepriesterin des Mithraskults.

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Tief unter uns rauscht die Rur. Ich halte einmal, damit wir sie hören.

Leider müssen wir weiter. Jetzt geht es hurtig in den Nadelwald hinein. Natürlich sehen wir die Hand vor Augen nicht. Aber wir müssen uns die Augen ja auch nicht zuhalten. Wir fahren durch die Schneise der Bahnlinie. Über uns ist der Abendhimmel, so wissen wir immer, dass es die Welt noch gibt.

Wir schauen hoch, und unsere Blicke sind in der Vergangenheit. Das Licht der Sterne zwischen den jagenden Wolken, hat sich gewiss beeilt. Trotzdem kommt es reichlich spät. Mir ist es egal, solange die Sterne uns leuchten. Und irgendwie ist es doch witzig, dass ein Stern uns leuchten kann, den es gar nicht mehr gibt.

tock tock tock
tock tock
tock

Ich glaube, ich habe mich verplaudert. Der Weg ist noch weit, und du bist schon müde. Ich spüre, wie du warm wirst an meiner Seite. Und wenn du jetzt schon so an zu heizen fängst, meine Liebe, dann kannst du auch ruhig deine Augen ein wenig schließen.

Wenn du erwachst, liegt die lange Fahrt über die windige Hochfläche bereits hinter dir. Ich hoffe, du träumst etwas Schönes, damit du mich auch morgen wieder begleitest.

Den Kuss auf dein Haar gebe ich dir jetzt schon. Du sollst ja noch spüren, wie ich mich verabschiede.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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17 Kommentare zu Nachtschwärmer Online – Vergessene Gleise

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