Nachtschwärmer Online – Ehrfurcht gegenüber dem Wurm

Fünf Etappen

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Weißt du, was mich bei Wattwanderungen immer fasziniert hat, meine Liebe? Du siehst übrigens wieder entzückend aus, nebenbei, … denk Dir nix, … ist mir nur so raus gerutscht, … war eine Sorte Zungenreden, … konnte gar nichts dagegen machen.

Du lachst. Das ist nicht zum Lachen. Das erste war ein ernst gemeintes Kompliment, und was danach kam, war ein irgendwo da hinten im Dunkeln gehobener Zeigefinger. Der hat gesagt: Du sollst nicht immer solche Sachen sagen. Du bist der Reiseführer, und das mach gefälligst ernsthaft, ohne deine Begleiterin anzubaggern.

Also, weißt du, was mich bei Wattwanderungen immer fasziniert hat?

Wenn so ein Wattführer einen Wattwurm ausgräbt.

Das kennst du. Er hat eine kleine Schüppe, sticht sie in den Wattboden ein und hebt die Scholle aus. Dann fummelt er aus dem Schlamm den Wurm und legt ihn in seine schlammige Handfläche, um ihn zu zeigen. Alle drängen sich um ihn herum und betrachten neugierig einen sich windenden Wurm, den der Wattführer mit dem Zeigefinger ein bisschen ärgert, falls er schreckensstarr ist. Dabei erzählt er, wie wichtig dieser Wurm für das Watt ist, und man merkt, er hat eine gewisse Ehrfurcht gegenüber dem Wurm.

Jedenfalls habe ich immer gedacht, wie seltsam der Mensch ist. Dort im Watt gibt es eigentlich außer Schlamm und Priele nicht viel zu sehen. Man geht durch Matsch, wer nicht auf den Wattführer hört und eigene Wege geht, den lässt er auch manchmal in die Falle laufen und warnt ihn nicht vor einer Stelle, wo man einsinken kann. Dann gibt er sein Opfer dem Gelächter preis, indem er nur Empfehlungen gibt, wie man sich befreien kann, ohne jedoch zu helfen. So bleibt dann manchmal der Stiefel des Unglücklichen stecken, was über die Jahre hinweg den Gummigehalt des Watts ziemlich heraufsetzt.

Entschuldige, bin vom Thema abgekommen.

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Ich wollte ja sagen, warum ich den Menschen seltsam finde. Also, im Watt ist wenig zu sehen. Plötzlich ist man bereit, einen Wurm zu würdigen. Es gibt halt nicht viel mehr als diesen Wurm im Watt.

Doch hier in der Gegend, rundherum in den Wäldern und Mooren, jetzt komme ich endlich zur Sache, in dieser Landschaft gibt es Flora und Fauna in Hülle und Fülle. Glaubst du, wenn du hier eine Führung mitmachst, der Fremdenführer gräbt dir einen Wurm aus? Kannst es ja mal versuchen und danach fragen. Es gibt so viele andere Dinge zu sehen, dass ein hiesiger Wurm nie mit Fremdenführern in Berührung kommt.

Hör mal, wir bummeln einfach so durch das nächtliche Monschau, hast du Lust? Die Luft ist angenehm, oder? Und in den verwinkelten Gassen spürt man Alltagsgeschichte. Solche alten schwarzen Balken im Fachwerk der Häuser, – irgendwann in der Vergangenheit ist es frisches Bauholz gewesen. Da waren kräftige Männer bei der Arbeit, die stolz waren auf ihre Muskelkraft. Hoffnungsfrohe Bauherren, kleine Kinder, die ihr neues Elternhaus wachsen sahen. Und jetzt sind sie alle Geschichte, ihre Namen verwittert auf alten Grabsteinen.
Ist es nicht seltsam, wie die Zeit den Menschen und die Dinge im eisernen Griff hat? Nicht das winzigste Tierlein kann ihr entkommen. Oder glaubst du, dass es Zeitschleifen gibt, stille Buchten, in der die Zeit langsamer dahinzieht?

Was wäre, wenn uns hier alte Laternen leuchteten? Und ein Nachtwächter käme näher und näher auf seinem Gang, sie zu löschen. Wir wissen nicht, was er ruft, in seinem vergessenen Dialekt. Jetzt hat er uns gesehen. Er spricht uns an, und wir verstehen, dass er uns fragt, was wir denn so spät in der Dunkelheit suchen. Plötzlich wissen wir, das Haus dort drüben ist unsres. Wir haben es erst kürzlich bezogen. Es wartet eine heimische Stube auf uns, und im Kamin knistern die Scheite.

Zu romantisch und ein bisschen kitschig. Tut mir leid, ist mir entglitten.

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Zurück in die Gegenwart, und was wollte ich dir eben sagen? Ach ja, Thema Naturvielfalt:
Also, wo die uns Natur stark und vielfältig erscheint, achten wir sie weniger. Sie ist zu komplex, und komplexe Sachverhalte sind dem Menschen unangenehm. Ein einzelner Wurm ist eine bequeme Sache. Leicht zu erfassen. Dagegen kostet es Kraft, sich den vielen Einzelheiten komplexer Sachverhalte zu widmen. Das Gehirn ist einfach ein zu großer Energieverbraucher. Deshalb weigert es sich manchmal, wenn man auf Kleinigkeiten achten will. Es folgt einem an sich nützlichen Ökonomieprinzip.

Sag mal, gehst du nicht gern auf Kopfsteinpflaster? Du hast Recht, es ist unter den Füßen irgendwie anstrengend. Du kannst meinen Arm nehmen, bis wir am Roten Haus sind.
Die Altstadt von Monschau ist verflixt eng. Doch die vielen Fachwerkhäuser gefallen dir, oder? Man möchte nur nicht drin leben. So verwinkelt, die Fenster klein, kaum Platz vor der Tür, und schief sind viele Wände auch. Schiefe Wände und Schieferdächer.
Ja, das war ein schwaches Wortspiel.

In den zahlreichen Andenkenläden kann man seine Wünsche in vier Sprachen äußern: Deutsch, Englisch, Französisch, Niederländisch. Diese Hinweisschilder siehst du hier überall in den Türen hängen. Der Monschauer spricht natürlich noch zwei weitere Sprachen: Eifeler Platt und „über andere Leute“. Der Ort heißt bei ihnen noch immer Montjoie. Der Name Monschau wurde erst 1918 durch einen kaiserlichen Erlass festgelegt.

Hörst du das immerwährende Tosen der Rur? Weiter oben hat man sie durch eine Talsperre gebändigt. Manchmal finden am südlichen Ortsende von Monschau Wildwasserkanu-Wettbewerbe statt. Dazu lässt man aus der Talsperre zusätzliches Wasser ab. Die Rur schießt dann durch den Ort, dass einem bang wird. Zur Zeit ist ihr Wasserstand niedrig. Es regnet seit Jahren eigentlich zu wenig, so dass die Talsperren ihr Stauziel kaum noch erreichen. Wir wünschen uns immer schönes Wetter. Doch „schönes Wetter“ bedeutet Abwechslung, mal Regen, mal Sonnenschein. Wir wollen doch keine Steppen und Wüsten. An der Wesertalsperre gibt es seitlich einen Überlauf. Dort wachsen bereits junge Birken, weil das Wasser schon Jahre nicht mehr an den Überlauf heranreicht.

Willst du auf der schmalen Brücke stehen?

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Im Dunkeln wirkt so ein rauschender Fluss noch unheimlicher, findest Du nicht? Man spürt eine Kraft, die nichts mit dem Menschen am Hut hat. Er kann sie sich dienstbar machen, er kann sie zu bändigen versuchen, doch die Kraft gehört dem Menschen nie. Die Kraft der Natur gehört sich selbst. Wenn ich früher mit dem Rennrad alleine ins Venn fuhr, von der Wesertalsperre hinauf zu ihren Quellen, dann nahm ich einen einsamen Weg, der von mächtigen Kiefern gesäumt war. Da war Stille, nur ihr Rauschen im Wind. Oft kam ich mir dort wie ein Eindringling vor. Für einen Augenblick zog ich durch eine Welt, die meiner nicht bedarf und auch nicht nach mir fragt.

Man kann natürlich einem Baum auch guten Tag sagen. Man kann seinen Stamm berühren und zum Wipfel aufschauen. Das tue ich gelegentlich; gestern erst habe ich es bei einer Buche getan. Sie war im Stamm so zerschnitten von „Ich-war-hier-Marken“, die über die Jahre hinweg ganz breit geworden sind. Man macht es heute nicht mehr. Nur selten sieht man ein frisches Graffito in der Rinde eines Baumes. Darin zeigt sich schon ein anderes Verhältnis zur Natur gegenüber den 50er und 60er Jahren.

Ich finde ja, dass in der Bibel ein Wort steht, das der Mensch lange Zeit missverstanden hat: „Machet euch die Erde Untertan!“

Der Tuchhändler Scheibler, der das prächtige Rote Haus erbauen ließ, hat sicher seine Legitimation darin gefunden. Denn du kannst dir vorstellen, wie verheerend die Tuchherstellung für die Rur und die von ihr abhängige Natur war.

Heute denken wir zum Glück anders. Wenn du jetzt hier ins Wasser spuckst, hast du schon ein schlechtes Gewissen. So ändern sich die Zeiten.

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Wobei es noch ein Unterschied ist, ob ein Mann oder eine Frau spuckt. Frauen sind ja in allem feiner als Männer. Bei Agrippa von Nettesheim habe ich einmal etwas Schönes über den Unterschied gelesen. Er sagt sinngemäß: Wenn eine Frau sich wäscht, dann macht sie das Waschwasser nicht schmutzig. Wäscht sich ein Mann, so macht er es schmutzig und schmutzig, egal, wie oft er sich wäscht.

Mit dem Wasser der Rur kann man sich nicht gut waschen. Es ist zu weich. Und jetzt wäre es auch ein bisschen kalt, was meinst du? Übrigens hat das Rote Haus ab gestern wieder geöffnet. Es ist ein Museum darin. Jetzt können wir es nur von außen bestaunen.

Genug gesehen für heute. Da oben über der Altstadt thront noch eine Burg. Ich weiß nicht, warum sie heute Abend nicht angestrahlt ist. Das hätten sie doch einmal für dich machen können, verflixt!

Ich hoffe, meine Liebe, du fandest unseren Bummel durch die Osternacht entspannend und bist jetzt angenehm müde.

Dein Haar duftet nach Frühling.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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