Nachtschwärmer Online – Der Onkel des Gynäkologen

Fünf Etappen

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Hallo, ich bin ein paar Minuten zu spät. Ich sah dich schon schmollend über die Schiene balancieren. Tut mir leid, ich war am Nachmittag längere Zeit unterwegs. Deshalb bin jetzt mit allem spät dran.
Ja, beim Friseur war ich auch. Ein Freund hat ihn mir empfohlen. Er ist Grieche und homosexuell. Also der Friseur, nicht mein Freund.
„Frauen schneiden einem die Haare so, dass man brav aussieht!“, hat M. behauptet.
Ich glaube, er hat Recht. Und dieser Friseur sagt fast nichts, während er dir die Haare schneidet. Das finde ich sehr angenehm. Mein Sohn ging früher zu einem Friseur, der dreht in seiner Freizeit Splattermovies. Möchtest du bei so einem im Stuhl sitzen?

Es ist übrigens noch nicht dunkel genug, um den Lichtpilz über Aachen gut zu sehen. Wenn du hier die schnurgerade Himmelsleiter hinunterguckst, kannst du ihn ahnen. Bei Smog ist er dreckiggelb bis orange. Inversionswetterlage heißt das, oder?
Wir müssen warten, bis kein Auto kommt. Denn wir lösen das Warnsignal des Bahnübergangs nicht aus. Die Draisine ist nicht schwer genug.

Du hast Recht. Hier ist noch ziemlich viel Verkehr um diese Zeit.
Sag, wenn von oben frei ist, ich gucke nach links!

Es kann los gehen?! O.K.
Eisen auf Eisen rollt sich ab – tock tock

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Wir rollen. Bist du schon einmal so über eine breite Bundesstraße gefahren? Irgendwie gruselig. Wenn jetzt ein Auto angerauscht käme. Hier rasen sie nämlich wie die Bekloppten, weil die Straße so steil bergab und geradeaus führt.

Ja, ich beeile mich, wir sind auch gleich drüben. Komisch, jetzt fühlt man sich im Wald wieder sicher, gestern war er uns noch unheimlich. Finster ist er ja wirklich, man kann es nicht bestreiten. Guck einfach nur aufs Gleis vor uns. Ich erzähle dir was, das lenkt dich ab.
Wir fahren auch nur ein kleines Stück durch den Wald, dann durch Wiesen und in einer großen Schleife durch den Ort Roetgen.

Findest du, dass die Luft wärmer als gestern ist? Dabei hat in der Gegend bis zum Nachmittag die Sonne geschienen: doch die Luft bleibt kalt. Wir rollen zum Glück nicht so schnell, denn es geht doch erkennbar bergauf. Es ist eine ziemliche Ingenieurleistung, eine Bahnlinie den Berg hinauf zu führen. Es sind viele Bauwerke dazu nötig, kleine Brücken, Viadukte, Hohlwege und Dämme. Wir werden es ja noch sehen die kommenden Nächte.

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Guck mal, da vorne lichtet es sich. Wir haben den Wald gleich hinter uns. Man riecht auch schon die Jauche von den Wiesen. Das kannst du von mir aus „Gute Landluft“ nennen.

Eisen auf Eisen rollt sich ab tock tock tock

tock tock

Witzig, wir sind jetzt im deutschen Teil des Waldes, doch der Gleiskörper unter uns gehört weiterhin zu Belgien. Wir fahren also durch deutsches Hoheitsgebiet, sind selbst jedoch im Ausland. Na, wie fühlt man sich als Ausländerin in Deutschland?
Irgendwie fremd, findest du nicht? Obwohl es nur ein Gedankenspiel ist.

Da, die Lichter von Roetgen!
Roetgen ist übrigens lange Zeit das flächenmäßig größte Dorf Europas gewesen. Es wohnen heute viele Gutbetuchte dort, die in Aachen arbeiten und hier im Grünen wohnen. Das Dorf hat eigentlich nur einen kleinen Kern. Die meisten Häuser liegen ziemlich verstreut.
Die alten Roetgener nennen ihren Ort „Rödschen“. An dieser mundartlichen Fassung kannst du erkennen, was es bedeutet: Rodung.
Raeren, der Ort, in dem wir gestern gestartet sind, bedeutet ebenfalls Rodung. Und hier links von uns, weiter unterhalb im Tal, liegt Rott, was natürlich auch ein Name für Rodung ist.

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In den Straßen von Roetgen habe ich einmal einen Radsportler getroffen. Wir fuhren dann eine ganze Weile zusammen. Es gibt Typen, die reden fast gar nichts, obwohl man vielleicht 20 Kilometer und mehr zusammen fährt. Mit diesem Mann jedoch kam ich ins Gespräch.

Einige Tage zuvor war ich mit Kollegen in Maaseik gewesen. Es ist ein historischer Ort auf der belgischen Seite der Maas. Sie haben dort einen quadratischen Marktplatz im Zentrum. Da stehen auf einem Sockel die Malerbrüder Jan (1390-1441) und Hubert (1370-1426) van Eyck, die besten Söhne der Stadt. Man weiß nicht genau, wie sie ausgesehen haben. Deshalb weiß man auch nicht, wer von beiden Jan und wer Hubert ist. Die Maaseiker verraten dir jedoch einen Test. Du musst dich hinter die beiden stellen und „Jan!“ rufen. Wer sich umdreht, der ist es.

Lustig, findest du nicht? Es erinnert mich an den Test, wie man herausbekommt, ob ein Fisch ein Männchen oder Weibchen ist. Weißt du, wie das geht?

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Du nimmst ein paar Brotkrümel, gehst ans Ufer und streust sie ins Wasser. Wenn er heraufkommt, ist der Fisch ein Männchen. Kommt sie herauf, ist es ein Weibchen.

Jetzt boxt sie mich schon wieder. Wie soll ich denn mit einer Armverletzung die Draisine fahren?

Jedenfalls haben sie in Maaseik auch ein Van-Eyck-Museum. Man sieht alle großen Gemälde, sogar ein Altartryptichon. Doch keines der Gemälde ist echt. Es sind alles aufgezogene Fotografien, gestiftet von Agfa.

Der Radsportler war übrigens von Beruf Gynäkologe und arbeitete als Belgier in einem deutschen Krankenhaus. Ich erzählte ihm, dass ich in Maaseik gewesen war und dass ich dort die Reproduktionen der Van-Eyck- Gemälde gesehen hatte. Da sagte er, sein Onkel habe die Aufnahmen gemacht, und sein Vater hätte die Fotoplatten bearbeitet.
Findest du nicht, dass es ein seltsames Zusammentreffen war? Und hätte ich nichts von den Maaseik erzählt, hätte ich nie erfahren, was es mit dem Gynäkologen auf sich hatte, mit dem ich da Seit an Seit durchs Hohe Venn fuhr.

Hallo, meine Liebe, bist du noch wach? Wir rollen jetzt in den alten Bahnhof von Roetgen ein. Hier halten wir, denn du bist gewiss müde. Ich hoffe, du fandest die Fahrt heute angenehm. Dann kommst du vielleicht morgen wieder.

Überlege es dir gut. Man weiß nie, was einen erwartet im Hohen Venn.

Also, wenn du willst bis Morgen.

Gute Nacht, meine Liebe
und schöne Träume!

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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