Abendbummel Online – Leise staunen – Ethnologie des Alltags

Was politisch korrekt ist, weiß man ungefähr, wenn man am öffentlichen Leben Anteil nimmt. Und was als schicklich gilt, wissen die meisten auch. Doch ich will einmal behaupten, dass jede individuelle Lebenswirklichkeit Skurrilitäten und Absonderlichkeiten aufweist, über die man zumindest leise staunen würde, wenn man sie mitbekäme. Von dem englischen Schauspieler Roger Moore hat ein Kritiker einmal gesagt, seine mimischen Fähigkeit würde gerade einmal zu einer erstaunt hochgezogenen Augenbraue reichen. Also mindestens so wie Roger Moore würde man gucken, wenn man tatsächlich einmal für eine gewisse Zeit Einblick in das Leben anderer bekäme. Natürlich gibt es im Internet diese kamerabestückten Häuser, in denen man Voyeur spielen kann, und auch das TV-Format Big Brother bietet solche Möglichkeiten. Ich meine jedoch das wirkliche Leben, nicht das inszenierte. Das zu studieren ist interessant. Ethnologie des Alltags.

Drei Beispiele, davon ein extremes

=> Ein Freund von mir hat einmal mit seiner Frau eine Autofahrt durch die neuen Bundesländer gemacht. Sie kamen auch an einem Ort vorbei, in dem die langjährige Brieffreundin ihrer Tochter lebte. Die Tochter hatte als junges Mädchen einen Esel gehabt und als Brieffreundin eine damals junge Frau gefunden, die ein Pferd hielt. Sie hatten die Frau noch nie gesehen. Doch die beiden hielten es für ihre Pflicht, wenigstens einmal guten Tag zu sagen. Die angegebene Adresse befand sich jedoch nicht im Ort. Man schickte sie auf einem holprigen Weg in die Einöde hinaus. Und da, wo man eigentlich keinen Menschen vermutet, fanden sie ein einsames Haus, eigentlich eine Bruchbude, allerdings mit Garten und Pferdekoppel. Das Haus lag halb unter einer Autobahnbrücke, fast eingekesselt durch einen Autobahnzubringer. Es war offenbar aus gefundenen Baustoffen gebaut, verschiedenen Steinen, die man irgendwo mitgenommen hatte.

Nebenbei: Ein Nachbar meiner Jugendtage arbeitete in einer Ziegelei. Er brachte täglich frischgebrannte Ziegel in seiner Aktentasche mit nach Hause. Später wurde im Dorf behauptet, er habe seinen schmucken neuen Bungalow mit den geklauten Ziegeln gebaut.

=> Ach so, wir sind wieder in der DDR. Am Haus der Brieffreundin. Wir klingeln, während wir von wilden schwarzen Hunden bekläfft werden. Eine Frau in mittleren Jahren öffnet. Begrüßung, Erklärung und pipapo… Dann zeigt uns die Frau das Haus. Sie ist irgendwie ganz unbefangen. Die grob gemauerten Wände der Zimmer haben keinen Verputz. Doch man hat es sich trotzdem gemütlich gemacht. Da sind nämlich überall Tierfelle an die Wände genagelt, ganz offenbar von Hunden, Kaninchen und anderem Kleingetier. Auch im Bad ist es hübsch. Die Toilettenbrille ist mit Hundefell gepolstert. Man sitzt angenehm. Wirklich! Das Haus hat keine Heizung, dann lohnt sich so ein Fell im Winter.
Probesitzen lehnen wir allerdings ab.

Mein Freund ist ein uriger Typ. Er hat selbst Tierschädel und –skelette rund ums Haus. Sie fügen sich ein in das Gesamtkunstwerk seines Hauses, von dem er selbst gar nicht weiß, dass es eines ist. Er hat es ja täglich vor Augen. Anders als Kurt Schwitters schichtet er nicht, sondern er arrangiert die Dinge in der Fläche. Er könnte auch nicht alles schichten, denn ein Großteil der Objekte sind ziemlich große Steine. Er hat jeden einzelnen rangeschleppt, im Rucksack von irgendwelchen Reisen mitgebracht. Doch viele dieser Steine stammen aus Bauwerken oder aus historischem Kopfsteinpflaster, es sind Grabplatten darunter, Kilometersteine, Grenzsteine, ein Stein aus der Akropolis, wofür er in den Knast gegangen wäre, wenn sie ihn an der Grenze erwischt hätten. Er nimmt auch schon einmal irgendwo alten Kram oder Tierskelette mit, Teile, die später auch im Haus ihren Platz finden. Will sagen, ihm ist eigentlich nichts Menschliches fremd. Wenn mein Freund also sagt, dieses Haus in der Einöde unter der Autobahnbrücke sei gruselig gewesen. Dann kannste glauben, das war gruselig.

=> Wie ich auf dieses Thema komme? Also, nicht nur Einzelwesen und Familien können sehr unterschiedlich leben, sondern es ist ja bei den gesellschaftlichen Gruppen genauso. Von manchen weiß man nicht, was sie treiben und wie es bei ihnen zugeht. Es sei denn, man geht einmal hin und schaut es sich an.

Heute wurde ich jedenfalls gebeten, ethnologische Studien in einem niederländischen Coffieshop zu betreiben. Das will ich dann demnächst einmal tun und davon berichten.

Guten Abend

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