Abendbummel Online – Zwitschern, Zirpen, Flöten, Gurren

Man weiß von Staren, dass einige das Zwitschern von Handys nachahmen. Ich habe einmal von einem Dänen gelesen, der einen Star in seinem Garten auf den Namen Nokia getauft hatte, weil der Vogel das Handyklingeln täuschend echt imitieren konnte. Stare sind gelehrige Vögel, und sollten sie zufällig auf der norwegischen Insel Hjertøya leben und nicht inzwischen an der Vogelgrippe verendet sein, dann intonieren sie vielleicht immer noch die Ursonate von Kurt Schwitters.

=> Schwitters lebte dort von 1933 bis 1936 in einer Hütte, wo er an seinem zweiten Merzbau arbeitete. Sein Freund, der elsässische Dadaist Hans Arp, berichtete einmal, wie er Schwitters auf der Insel Föhr erlebt hatte. „In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyk auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte.“
KurtSchwitters
(Kurt Schwitters intoniert die Ursonate)

=> Möglicherweise hörten also die Stare von Hjertøya interessiert zu, wenn Schwitters so ganz für sich die Ursonate intonierte. Und eventuell gaben sie die neuen Laute von Generation zu Generation weiter. Jedenfalls staunte der Künstler Wolfgang Müller nicht schlecht, als er 2001 die Insel besuchte und von den Staren die Ursonate gezwitschert bekam.

Er nahm sie auf Tonkassette auf und veröffentlichte später eine CD mit dem Titel: „Hausmusik – Stare aus Hjertøya singen Kurt Schwitters“.

Müller bekam damals Urheberrechtsprobleme mit den Rechteverwaltern der Schwitters- Erben. Sie sind ungefähr so freundlich wie die Disney-Erben, die ja auch jede kleine Schülerzeitung abmahnen, die einmal einen Donald abdruckt.

Doch am Ende ließ man Müller gewähren, denn es war juristisch doch höchst zweifelhaft, ob man den Staren verbieten kann, eine CD herauszubringen, worauf sie Schwitters imitieren.
Ja, es waren nicht die Stare, ich weiß. Herr Müller hat ein kleines Geschäft mit ihrem Gesang gemacht.

Es ist trotzdem verdienstvoll, denn auf diese Weise geriet ja nicht nur Wolfgang Müller, sondern auch Kurt Schwitters wieder in die Presse. Denn gemeinhin kennt und schätzt man Schwitters im Ausland mehr als bei uns.

=> In den zehn Jahren, als ich noch Tagebuch schrieb, habe ich es gemacht wie Schwitters, wenn ich durch die Stadt bummelte, nur war ich dabei nicht so konsequent wie er. Schwitters hob ständig Papierobjekte von der Straße auf, sammelte so gut wie alles, was ihm in die Finger kam. Vieles davon verarbeitete er in seinen Collagen und Assemblagen. Größere Objekte fanden ihren Platz in seinem berühmten Merzbau.

Anfangs hieß das Objekt „Kathedrale des erotischen Elends“. Da stand es noch auf einem Sockel. Wer bei Schwitters zu Besuch war, musste irgendetwas von sich dalassen. Schwitters richtete beleuchtete Kammern für die Objekte ein. Es befand sich auch ein Fläschchen Urin darunter. Von wem diese Körperausscheidung stammte, weiß ich leider nicht mehr. Die Kathedrale wuchs, und irgendwann ließ Schwitters die Decke durchbrechen, damit sein Merzbau weiter wachsen konnte. Dann wuchs der Bau auch in einen Nebenraum. Später ließ Schwitters den gesamten Merzbau kubistisch verkleiden und weiß anstreichen. Teile davon waren begehbar. Leider existieren nur wenige Fotografien davon, denn der Merzbau ist bei einem Bombenangriff verbrannt. Vor einigen Jahren habe ich ein nachgebautes Stück davon in Düsseldorf auf einer Ausstellung über Surrealismus *) gesehen. Es war beeindruckend, obwohl der Bau kein Innenleben hatte wie der echte.

*) Die Surrealisten gelten als die direkten Nachfolger der Dadaisten. Viele Dadaisten wandten sich später dem Surrealismus zu. Schwitters blieb seiner Merzkunst treu. Sie vereint Dichtung, Malerei, Musik, Typografie, Tanz und Performance.

=> Wenn eine Sprache in Wörterbüchern verzeichnet ist, sterben manche Wörter nicht völlig aus, sondern sind nur eine Weile scheintot. In den 50er Jahren galt das Wort „Kommerz“ als ausgestorben. Der Duden verzeichnete es nicht mehr, denn es war nicht mehr im Gebrauch. Ende der 60er tauchte Kommerz wieder auf, und zwar in der Verbindung „Kunst & Kommerz“. Die deutsche Commerzbank trägt das Wort in ihrem Namen.

Kurt Schwitters hat den Schriftzug der Commerzbank genommen, zerschnippelt und „merz“ in eine seiner Collagen eingebaut. So bekam seine Kunst ihren Namen. Er wirkt freundlich wie Schwitters selbst. Die Assoziation zu dem Wort März ist durchaus gewollt. Denn es steckt etwas von Frühling und Aufbruch in der Merzkunst. Es passt, dass Stare die Ursonate trällern.

Merz ist von der Anlage her keine Antikunst wie der Dadaismus.
Schwitters hatte etwas anderes im Sinn: „Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff ‚Kunst’ erst los werden müssen, um zur ‚Kunst’ zu gelangen.“

Ihm ging es also um eine neue Form der Kunst. Das Material für die Merzkunst stammt aus dem Alltag. Da ist kein vorgefundener Fetzen zu gering. Er wird in Form gebracht und fügt sich ein in die Bildkomposition. Diese Collagetechnik wendet Schwitters auch auf die Laute an. Die Laute der menschlichen Sprache werden bei ihm zu Klangelementen ohne inhaltliche Bedeutung. Es gibt übrigens eine Originalaufnahme der Ursonate, die Schwitters 1932 aufnahm. Ich habe sie eben im Internet gefunden, konnte sie jedoch nicht abspielen, weil mir irgendein verficktes Plugin fehlte.

Vielleicht verfliegt sich ja mal ein Star von Hjertøya und setzt sich in den Baum vor meinem Fenster.

Guten Abend

Tretet Dada bei!

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