Das Sonntagswort Online

Heute: Freie Assoziation

Obwohl die Füße zuerst
nicht wollten, – sie haben mich dann doch den Lousberg hinaufgetragen. Fast wie Frühling war es, bevor die Sonne hinter einer Wolkendecke verschwand. Und ein wenig voll.
Da musste ich warten, bevor ich in Ruhe meine Hände an drei Bäume legen konnte.
Ich fand:

– eine junge Buche, federnd der Stamm,
– eine mächtige hohe Buche,
– eine Eiche.

Selten hatte ich mir zuvor die Borke einer Eiche so aus der Nähe angesehen. Doch sie lockte mich, denn sie fühlte sich warm an, anders als der glatte Stamm der Buche.
Der Stamm der Eiche hat vertikale Risse, auf den Bahnen dazwischen sitzen wiederum große Schuppen. Die grafische Struktur zu zeichnen wäre nicht einfach.
Ich bedauerte, dass ich nicht Papier und Bleistift bei mir hatte, denn ich hätte gern eine Frottage gemacht, du weißt schon, wie du es als Kind mit einem Pfennig gemacht hast.

(Das Wort „Pfennig“ mal wieder zu schreiben, wo es doch bald abgestorben sein wird, wie das Stück Holz, das ich am Boden fand.)

Wenig später hätte ich noch eine Frottage machen wollen. Denn ich fand eine große, verkrüppelte Buche. Sie maß um den Stamm herum mindesten neun Schritte. Ihr Stamm hatte etwa in Augenhöhe einen starken halbkugeligen Wulst. Doch an den ehemals glatten Stellen des Stammes, höher hinauf als die ausgestreckte Hand, waren Zeichen, Daten und Namen eingeschnitten. Ein Pentagramm war geritzt, doch alle anderen Zeichen waren geschnitten. Man muss ein gutes Messer haben, um solch fette, gerade Buchstaben derart tief in den Stamm zu schneiden. Ich weiß nicht, ob der Baum deshalb so krüppelig wirkte, wegen der massiven Verletzungen rundum. Er hatte mit seinem Wachstum die oberen Zeichen weit auseinander gezogen. Sie waren fast unlesbar, während die jüngeren Zeichen mir eine klare Schrift geliefert hätten, wenn ich sie denn hätte frottieren können.

Es war der einzige Baum in der Gegend, dem man diese „Ich-war-hier-Marken“ angetan hatte. Wegen der weiblichen und männlichen Vornamen könnte es auch ein Baum für Liebeszauber gewesen sein. Ein Herz fand ich jedoch nicht. Ich weiß nicht, ob man das Symbol noch benutzt. Die jungen Leute sprühen lieber unleserliche Tags, ritzen in die Rückseiten von Bussitzen oder verkratzen Parkbänke. Und stehen dort zwei Namen, dann ist das Piktogramm eines tropfenden männlichen Gliedes daneben.
Gut, eine subjektive Wahrnehmung. Eine statistische Erhebung darüber kenne ich nicht.

Dann saß ich auf einer Bank und schaute nach Südwesten über die Stadt. Die Luft war beinahe klar. Weit oben an der Kuppe des Aachener Stadtwaldes lag an den Rändern des Waldes noch Schnee.

Zu meinen Füßen lagen Sektflaschen und Reste von Feuerwerkskörpern. Irgendwann packte mich der Nachahmungstrieb. Denn auf einer anderen Bank saßen telefonierend Vater und Sohn.
Da nahm ich also mein Mobiltelefon auch heraus und rief einen Freund an, bei dessen Freundin in der Küche ich mit vielen Gästen die Silvesternacht feierte. Sagte noch einmal Dank, denn ich dachte mir, sie ist bei ihm.

Er sagte, er sei am Morgen mit dem Hund auf dem Lousberg gewesen, und er habe unzählige Scherben, Flaschen und Müll gesehen.
Das war witzig, denn ich saß mittendrin.
Ob es die Neujahrswünsche verstärkt und ob es deren Eintreffen eher möglich macht, wenn man die Sektpullen und die ausgebrannten Pappkartuschen zurücklässt?
Ist es besser, nach dem „Frohes neues Jahr!“ ein Sektglas zu Boden zu deppern?
Oder soll man sie sogar rückwärts über die Schulter an die Baumstämme schmeißen? Das wusste ich nicht.

Solchen Zauber habe ich nicht gemacht. Im Gegenteil, beinahe hätten wir zwölf Uhr verpasst. Ich unterhielt mich so schön mit einem Doktoranden der Theoretischen Physik. Noch nie hatte ich mit einem Menschen gesprochen, der Theoretische Physik betreibt. Wie geht das wohl?
Wir sprachen übers Schreiben, denn neben mir stand der Freund, mit dem ich kürzlich einen Kriminalroman geschrieben habe, und der Mann der theoretischen Physik beneidete uns, da er eben nur theoretische Physik zu schreiben habe.

Mein Freund ist Anglist, und er wusste sofort, was ich meinte. Denn ich sagte dem theoretischen Physiker, dass englische Wissenschaftler auch theoretische Physik zu erzählen wüssten.
„Narrativ“, sagte mein Freund und noch was hinterher, was ich nicht verstand, weil es ziemlich laut in der Küche war.

Der Mann der theoretischen Physik nickte: „Das ist so. Doch die Engländer selbst sagen, wenn man eine Arbeit über theoretische Physik lesen wolle, die knapp ist und nur das Wichtige in geraffter Form enthält, dann würde man auch als Engländer lieber die Arbeit eines deutschen Wissenschaftlers lesen.“

Da hatte ich ein Beispiel, und das zeige ich zum Abschluss:

Zu der Zeit, als man noch Fernschreiber mit Lochstreifen benutzte, hatten englische wie deutsche Fernmeldetechniker einen Funktionstest, um festzustellen, ob auch alle Zeichen korrekt übertragen werden.

Die Engländer sendeten einen Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält:
THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG.
(Ach ja, zwei schwarze Hunde waren auch noch zwischen all den Leuten in der Küche)

Die Deutschen sendeten nur zwei Buchstaben: „R“ „Y“.

Denn diese beiden Buchstaben decken die gesamte Lochstreifenmatrix ab. Wenn R und Y korrekt übermittelt werden, sind der Datenweg und die Maschinerie in Ordnung,

Das ist also der Unterschied:
Deutsche Wissenschaft: RY
Englische Wissenschaft: THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG.

Es ist bei den Engländern ein wenig mehr Witz darin, oder?;)

Witzig war auch unser gemeinsames Stehen mit Sekt unten auf dem Bürgersteig, als die Raketen hoch zischten. Die Freunde und Freundinnen der Freundin meines Freundes hatten auch etwas bei sich, um Zauber zu machen: Große Wunderkerzen.

Guten Abend!

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